Juraj Jascur

«Du wirst mich beschützen! Versprich mir das!».
Nelson ist regungslos. Lauren, der gleich neben ihm sitzt, kann die Angst in seinen Augen ablesen. Doch Angst vor was? Lauren, der sich mit der Vergangenheit seines Vaters, Nelson, und der von Hyronimus und Sebastian auseinandergesetzt hat, erinnert sich wieder an damals, als er zusammen mit seiner Mutter, Celestine, und seinen Geschwister auf Jupiter verfrachtet wurde. Schon bei dem Gedanken an die damaligen Erlebnisse läuft es ihm eiskalt den Rücken herunter.
Es war der 6. Juni 2965. Bis dahin führte Lauren eine relativ unbeschwerte Kindheit. Er war vierzehn und damit beschäftigt sich in der Gesellschaft richtig einzuordnen. Dabei kam er unweigerlich auf die schmerzhafte Erkenntnis, dass er sich von seinen Geschwistern, Cousinen, aber auch von den Kindern aus Sebastians Familienbaum unterschied. Er fühlte sich ihnen gegenüber minderwertig, unvollkommen und grotesk. Niemand wollte mit ihm spielen, niemand nahm ihn ernst, alle hatten immer nur das Gefühl ihn zu Recht zu weisen oder gar zu bevormunden. Auf der Schule fiel er in allen sozialen Fächern durch. Trotz seiner hervorragenden Fähigkeiten in den intellektuellen Fächern, wurde er von den Lehrern ständig schikaniert.
«Dir fehlt der Sinn für Kameradschaftlichkeit! Dir fehlt ein Gespür für soziale Situationen…».
Damals noch, in der alten Ära, hätte er zu den Privilegierten gehört. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Aufgrund der grossen Spannungen zwischen Systemgegnern und Systemanhängern hatten sich die Menschen gezwungen gefühlt, ihre Herzen zu öffnen, um alle Polaritäten aus dem Weg zu schaffen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich sozial und intellektuell zu entfalten. Lauren, der Seitens der Schule schon genügend Unterstützung und Sonderbewilligung erhielt, glaubte den Anforderungen, welche eine soziale Gemeinschaft mit sich führte, nicht gewachsen zu sein. Der Staat war geprägt von aprupten Veränderungen, von Sanktionen, welche ganze Populationsgruppen betraf.
Auch an diesem 6. Juni 2965 erhielt Seine Mutter, Celestine, den Befehl, sich unverzüglich folgenden Anordnungen zu beugen: Sie wurden wieder einmal zwangsumgesiedelt. Doch dieses Mal wurden sie von Sebastians Frau, Schulu, und ihren Kindern getrennt. Da das System in den letzten Jahren an innerer Elastizität verloren hatte, hätte die Anwesenheit von Nelson sowieso nichts daran ändern können. Denn ihm hätten die nötigen Ressourcen gefehlt, um Daten zu seinen Gunsten zu manipulieren. Doch etwas hätte er bestimmt unternommen und nicht passiv zugesehen, wie man seine Familie ins Verderben stürzte. Doch als Flüchtling musste er zum ersten Mal erkennen, dass er nicht mehr frei war. Fern von seiner Frau und seinen Kindern, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst versteckt zu halten. Selbst Hyronimus musste um seine Sicherheit bangen. Das System, das er einst erschaffen hatte, war im Begriffe zu erstarren. Es konnte ihm nicht mehr behilflich sein.
Mit Abermillionen anderen wurden Lauren, seine Geschwister und seine Mutter in ein Riesenschiff verfrachtet. Er hatte bereits seit Jahren als eine Nummer gegolten. Dieser Umzug hatte man schon jahrelang im Voraus geplant. Jeder repräsentierte nur eine Nummer und hatte gewisse Pflichten gegenüber dem Staat zu erfüllten.
Auf dem Planeten Mars erwartete sie die Hölle. In den folgenden drei Jahren mussten sie in Barracken hausen und ständig irgendwelchen Befehlen gehorchen. Wenn sie zu langsam waren oder zu fehlerhaft, wurden sie bestraft. Es gab genügend Foltermethoden, um Menschen dazu zu bringen, dass sie funktionierten. Sie hatten keine andere Wahl. Entweder zugrunde gehen, oder erfolgreich werden. Wieviele Male musste man Lauren schlagen, einsperren, demütigen, bis er endlich die einfachsten Handfertigkeiten beherrschte, die einfachsten Anweisungen richtig zu befolgen vermochte oder seine Ängste überwand, um gefährliche Aufgaben zu erledigen. Doch selbst diese drei Jahre hatten aus ihm keinen anderen Menschen gemacht.
Als er zusammen mit seiner Familie am 1. Juli 2968 auf Merkur erneut zwangsumgesiedelt wurde, begann er all das, was er auf dem Mars gelernt hatte, wieder zu vergessen. Auf dem Planeten Merkur warteten auf ihn völlig neue Aufgaben. Doch er versagte. Der ganze Drill in den langen drei Jahren schien bei ihm spurlos vorübergegangen zu sein. Er zeigte sich noch derselbe genauso unbeholfen. Er galt als ein Mensch, der sich in einer Gesellschaft nicht zurechtfand. Er fühlte sich noch nicht einmal dazu befähigt, eine Partnerin finden, um sich fortzupflanzen. Jeder Bürger war dazu verpflichtet, mindestens einen Nachkommen zu zeugen. Die Gesellschaft bestand aus erschöpften überalterten Menschen, welche nur dank ihren Verjungungshormonen die nötigen Leistungen zu vollbringen vermochten, um die überalterte Population aufrecht zu erhalten. Lauren musste, ob er nun wollte oder nicht, sich der Anordnung beugen. Er hatte für Nachwuchs zu sorgen.
Da er selbst nicht imstande war, eine Partnerin auszuchen, wurde ihm eine vom Staat zugewiesen. Er erinnert sich noch an dem Tag, als er sich ganz offiziell mit einer bestimmten Frau zu treffen hatte.
Man schrieb den 20. Mai 2980. Kassandra befand sich bereits in ihrem Amtszimmer. Sie war paarungsbereit. Ihr Ei wartete nur darauf befruchtet zu werden. Lauren, der sich nie dazu befähigt fühlte Anweisungen richtig durchzuführen, war erst recht nicht in der Lage, Anweisungen zu missachten. Er brauchte erst gar nicht zu klopfen. Die Tür ging von selbst auf. Eine attraktive, hochintelligente Frau begrüsste ihn. Ihr Job bestand darin, sich von Männern befruchten zu lassen, welche es nicht fertig brachten, sich auf eine persönliche Beziehung mit einer Frau einzulassen. Als Gegenleistung für ihre Bemühungen gewährte ihr der Staat eine sichere Existenz. Sie erklärte sich dazu bereit, ein weiteres Kind auszutragen. Das gehörte zu ihrem Job. Es sollte ihr zehntes werden.
Nach der Entbindung würde sie das Kind seinem Erzeuger übergeben, also dem rechtmässigen Vater, damit er sich um das Kind kümmerte. Lauren, der sich offensichtlich nicht zum Erzieher eignete, sollte von ihr die nötigen Hilfestellungen erhalten. Doch Lauren stand nicht unendlich viel Zeit zur Verfügung. Er hatte also sehr schnell zu lernen, die Vaterrolle alleine zu meistern.
«Grüss dich, Lauren! Ich werde Morgen einen Eisprung haben! Das heisst, dass du genügend Zeit hast, um dich zu sammeln. Also wenn es heute nicht klappt, dann ist noch lange nichts verloren!».
Ihre Worte klangen sachlich und künstlich. Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
«Setzt dich doch! Willst du etwas trinken? Natürlich hast du Durst! Sei ganz unbesorgt! Ich bin kein Monster!».
Lauren, der immer noch verstört mitten im Raum stand, blickte wie hypnotisiert auf das grose Himmelbett.
«Lass dich von diesem Bett nur nicht nervös machen!».
Kassandra sprach ununterbrochen. Doch es half. Ihre sachlichen Worte, der langweilige Klang ihrer Stimme und ihre belanglosen Floskeln, welche sie von sich gab, verlieh der Athmosphäre etwas geschäftlich Harmloses. Der unbeholfene Mann fühlte sich tatsächlich wie in einem Amt, wo er sich für irgendeine Mitgliedschaft zu registrieren hatte. Sie stellte ihm pausenlos Fragen, auf die er sehr wohl eine Antwort parat hatte. Ihre Fragen bezogen sich gezielt auf seinen schulischen und beruflichen Werdegang. Er gab ihr formel und sachlich Auskunft.
«…und ich schloss dann die Ausbildung zum Genanalytiker erfolgreich ab. Aufgrund meiner Probleme im sozialen Bereich klappte es beruflich dann auch nicht! Zurzeit lebe ich von einem Mindesteinkommen und werden mich einer beruflichen Abklärung unterziehen lassen…».
Kassandra hörte ihm aufmerksam zu. Lauren, der nur selten die Gelegenheit hatte, mit jemand zu sprechen, der ihm auch zuhörte, fühlte sich immer entspannter. Und plötzlich geschah es. Ihm entging nicht, dass sie unentwegt ihre athletischen Beine bewegte. Der enge Anzug liess ihren Körper gut zur Geltung kommen. Vorsichtig begannen seine Augen ihren schönen Körper zu erforschen. Ihr Gesicht interessierte ihn nicht sonderlich. Der weltfremde Mann, der sich bisher überhaupt nicht für Frauen interessierte, fühlte auf einmal eine Erektion zwischen seinen Beinen. Wie eine heisse Welle durchströmte dieses neuartige und unbeschreiblich angenehme Gefühl seinen jungfräulichen Körper.
Kassandra stand plötzlich auf und näherte sich ihm. Er konzentrierte sich nur noch auf ihr Becken, das sich ihm auf majestätische Weise anbot. Ihre Hand berührte ihn sanft. Instinktiv stand er auf. Sie führte ihn zum Himmelbett. Wie von fremder Hand gesteuert, legte er sich aufs Bett. Voller Erwartung lag er da. Sein Körper zitterte vor Verlangen. Erwartungsvoll verfolgten seine wachsamen Augen jedes ihrer Bewegungen. Sie beugte sich zu ihm herunter, legte sich auf ihn, statt ihn zu küssen, begann sie wieder über den Zweck ihres Treffens zu sprechens. Sie schaffte es sogar ihn zu schmeicheln, indem sie die männlichen Vorzüge seines Körperbaus betonte. Langsam streifte sie seinen Stoff von seinem vor Erregung zitternden Körper ab. Splitternackt lag er vor ihr. Hilfos wie ein Kind schaute er sie erwartungsvoll an. Sie war noch nicht ausgezogen. Statt sich wie sonst üblicherweise zu fragen, wie der weitere Verlauf sein würde, liess er alles auf sich zukommen. Die alles und entscheidende Frage, wie denn der eigentliche Geschlechtsakt den technisch gesehen ablaufen würde, wurde ihm in diesem einmaligen Moment auf wunderbare Weise beantwortet.
Als sie sich voneinander verabschiedeten fühlte er sich erleichtert. Doch je mehr Tage seit dem einmaligen Ereignis verstrichen, desto mehr kehrte er wieder zu seinem alten Verhaltensmuster zurück. Das Thema „Sex“ schrumpfte zu einem bedeutungslosen wissenschaftlichen Begriff. Er war wieder genauso wie vorher. Keine Frau konnte die Mauer, welche ihn umgab durchdringen. Als ihm dann sein Sohn am 18. März 2981 von Kassandra persönlich übergeben wurde, erstarrte er innerlich vor Angst. Doch sie wusste, wie sie mit dieser Art von Mensch umzugehen hatte. Sie begann wieder auf ihre sachlich monotone Weise auf ihn einzureden. Mit einleuchtenden Argumenten konnte sie ihn davon überzeugen, seine Aufgabe als Vater wahrzunehmen. Er musste etliche Kurse belegen, um einigermassen zu verstehen, wie man mit einem Baby umzugehen hatte. Kassandra sollte ihn also noch viele Jahre hinweg kontaktieren und beraten, bis Jürgemik schliesslich erwachsen wurde.
Lauren hatte immer das Gefühl, bei der Erziehunge seines Sohnes nie wirklich allein gewesen zu sein. In der ganzen Zeitspanne der Entwicklung seines Kindes hatte er unzählige von Berater, welche ihm zur Seite standen. Kassandra erwies sich als die treueste von allen. Sie liess ihn in seinen Ängsten und Nöten niemals allein. Sie hatten jedoch nie wieder Sex miteinander. Sie verhielt sich ihm gegenüber distanziert. Niemals kamen bei ihr Gefühle einer Ehefrau oder gar einer Mutre hoch. Sie blieb stets sachlich und nüchtern. Doch sie zeigte sich ihnen gegenüber aufrichtig. Ihr war es ein grosses Anliegen, dass man Jürgemik die nötige Erziehung angedeien liess, die er bedurfte. Bald stellte sich heraus, dass Lauren das Gefühl bekam, dass er seinem Sohn unterlegen war. Je älter Jürgemik wurde, desto minderwertiger fühlte sich Lauren in der Rolle als Vater.
Jürgemik musste schon früh lernen, erwachsen zu werden. Er liebte seinen Vater, doch ihn wirklich als Autoritätsperson zu respektieren, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Jürgemik begann sich mit 13 Jahren dagegen zu sträuben, dass irgendwelche Amtspersonen in ihr Haus hereinschneiten, um seinen Vater zu bevormunden. Kassandra war die einzige, welche Jürgemik akzeptierte. Natürlich wusste er, dass sie seine biologische Mutter war. Doch das war nicht der Grund, warum er sie den anderen Erziehungsberater bevorzugte. Er schätzte ihre Ehrlichkeit und Distanziertheit.
Kassandra fiel immer mehr auf, wie sehr sich Jürgemik von seinem Vater unterschied. Er begann auf ganz nüchterne Weise sein Leben und das von seinem Vater in die Hand zu nehmen. Er führte die Gespräche mit Kassandra und den anderen, während Lauren nur passiv dasass und sich wie eine Witzfigur fühlte. Als Jürgemik das fünfzehnte Lebensjahr erreichte, beschloss man, die ständigen Besuche abzustellen. Kassandra erhielt die Befugnis, die kleine Zweimannfamilie monatlich zu besuchen, um nach dem Rechten zu sehen.
Mit 18 zog Jürgemik von zu Hause aus, weil er es für das Beste hielt. Lauren war froh, endlich alleine zu sein. Nun glaubte er endlich nicht mehr kontrolliert zu werden. Doch er irrte sich gewaltig. Jürgemik tauchte gelegentlich auf, um Lauren, seinen Vater, daran zu erinnern, sich am Sozialleben zu beteiligen. Doch Lauren weigerte sich zu kooperieren. Stattdessen beschäftigte er sich mit esoterischen Themen, wie die Prophezeihungen von Emu. Das Mindesteinkommen, das er als Erwerbsloser erhielt, reichte ihm vollkommen. Bald begannen ihn auch seine Brüder und seine Mutter zu drängen. Lauren fühlte sich dermassen bedrängt, dass er sich noch mehr zurückzog. Er begann fast schon paranoid zu werden. Er fühlte sich fast schon in seinen eigenen vier Wänden beobachtet…

Kapitel 2

(…du wirst mich beschützen…), hört Lauren seine kleine Enkeltochter flüstern. Es kommt für ihn einer Demütigung gleich, dass sie sich an Nelson und nicht an ihn gewendet hat, als sie beschloss, ihre Gedanken kund zu geben. Statt sein Herz zu befragen, ob er es denn überhaupt möchte, dass man seine Hilfe in Anspruch nimmt, beobachtet er voller Neid und Scham seinen Vater, Nelson, der von seiner Urenkelin, Leonora, umarmt wird. Dabei ist Körperkontakt das letzte, wonach er sich sehnt. Allein der Gedanken, dass ihn ein Mensch umarmt, stösst ihn ab. Bei der sexuellen Begegnung mit Kassandra fühlte er sich im Zustand totaler Ekstase. Selbst nach so vielen Jahren kann er es nicht glauben, dass er sich ihr auf diese Weise genähert hatte.
Neptun scheint förmlich vor Glück zu platzen. Die Einwohner strahlen eine unglaubliche Lebenslust aus. Als Lauren und die anderen aus dem Raumschiff steigen, werden sie schon von Sebastian und seiner Familie ewartet. Lauren sieht sich vorsichtig um. Nicht nur Sebastians Clan, sondern auch fremde Passanten nicken die Besucher freundlich zu. Lauren vergisst seine Ängste und seine innere Scham. Er vergisst seine ständigen Selbstvorwürfe. Er geniesst einfach dieses unglaubliche Gefühl, dass ihn fast schweben lässt. Neben ihm marschiert der hühnenhafte Nelson. Auf seiner Schulter sitzt Leonora. Auch die anderen sind darüber überrascht. Noch nie hat sich Leonora so offen gezeigt. Lauren blickt zu seinem Vater, Nelson hoch, dessen Augen vor Glück aufblitzen, als er Sebastian seinen Namen rufen hört.
«Nelson, Nelson, du Riese, lass dich umarmen! Verdammt nochmals, warum hast du dich so lange nicht blicken lassen, du Riesenautist? Ha, ha, ha!».
Lauren zuckt innerlich zusammen. Soll Nelson tatsächlich autistisch sein?
«Willkommen auf Neptun!», ruft Sebastian aus.
Die übliche Begrüssungszeremonie ist in vollem Gange, während Lauren sich zurückzieht. Niemand scheint ihn zu beachten. Er steht einfach da und beobachtet die Umgebung. Der in Urzeiten so leblose Planet zeigt sich nun in seiner ganzen biologischen Pracht. Dank der Biotechnik leben hier seit hunderten von Jahren Menschen. Traumhafte Landschaften erfreuen die Neptunianer. Der Himmel leuchtet in den verschiedensten Farben.
Die «Befruchter», so nannte man Frauen und Männer, welche aufgrund ihrer herausragenden Fähgikeiten dazu auserkoren waren, unbewohnbares Land bewohnbar zu machen, genossen mehr Ehrung als ein General, der sich erfolgreich in einer Schlacht bewährt hatte.
Die Erzeugung von Leben bedurfte gewaltiger Energieschübe. Die künstlichen Explosionen wirkten zerstörerisch, schienen all die natürlichen Elemente durcheinander zu bringen und liessen nur den Experten erkennen, welche Struktur sich hinter dem gewaltigen Chaos verbarg. Wie eine Kettenraktion kam ein Planet nach dem anderen an die Reihe. Von dieser gewaltigen Flut von belebender Energie wurden auch alle Monde erfasst, aber auch alle Zwergplaneten und Meteoriten.
2145 war das Jahr, wo der Mensch seinen Lebensraum zu erweitern begann. Er expandierte. Sein Geist schien keine Grenzen mehr zu kennen. Die Kolonisten erfreuten sich unglaublicher Ressourcen. Während das Leben auf der Erde immer mehr an Sinn verlor, gedeihte das Leben im übrigen Rest des Sonnensystems. Der Mittelupunkt der Zivilisation begann sich immer mehr von der Erde auf den Rest des Sonnensystems zu verlagern. Schulen, Ausbildungsstätten und viele weitere Institutionen und Fabriken, Minen, etc. schossen wie Pilze im Lebensraum ausserhalb der Erde. Mit Hilfe von Lichtprojektoren sorgte man auf allen Planeten für einen Tag-Nacht-Rhythmus, der dem auf der Erde entsprach. Die Assimilierung war noch lange nicht abgeschlossen, als die Erde sich plötzlich im Jahre 2356 bewusst abzuschirmen begann. Das war der 31. August 2356. Von da an herrschte Ausreiseverbot. Ein neuer Staat wurde gegründet. Der Erdenstaat wollte damit ein Exempel statuieren. Während ringsum die Erde herum das Leben gedeihte, die Geburtenraten ins Extreme stiegen, hatten die Erdenbewohner eine totale Wirtschaftskrise erlebt. Statt von dem grossen Kuchen zu profitieren, ging der Planet Erde, von wo einst dieses grosse Projekt der Befruchtung gestartet hatte, beinahe unter. Der Erdenstaat hatte einen strategischen Vorteil. Sie hatte sich ihr Monopolrecht auf die Sonne kurz nach dem Beginn der Expansion im Jahre 2145 geschaffen.
Die Kolonialstaaten ausserhalb widersträubte es mitanzusehen, wie Menschen auf der Erde geknechtet, gefoltert und gedemütigt wurden. Ihnen blieb jedoch nichts anderes übrig, als einen grossen Teil ihres wirtschaftlichen Gewinns an die Erde abzugeben. Es gab unzählige von grossen Denkern in den Kolonien, welche klar erkannten, dass man die Erde in all den Jahren vernachlässigt hatte. Man hatte zugelassen, dass trotz der grossen Gewinne, die Erdenbewohner hungern mussten. Sie konnten gut nachvollziehen, warum sich nun der Erdenstaat am Rest der Welt rächen wollte. Dass sie sich dabei aber selbst schädigten, vermochte niemand zu verhindern. Der Name Emu gewann ab dem Jahr 2365 an Bedeutung. Selbst nach dem grossen Planetenbund im Jahre 2612, wo die Erde bewusst ausgeschlossen war, gehörten seine Schriften zum aktuellen Gesprächsstoff.
Ein Junge kam in ärmlichen Verhältnissen auf die Erde zur Welt. Das war im Jahre 2340, 13. Juli. Sein Vater musste in einer Bleimine arbeiten, um die Familie einigermassen durchzufüttern. Seine Mutter putzte in Fabriken, privaten Haushalten oder in Schulen. Er begleitete sie auf ihren Reisen durch die Welt. Bereits mit fünf Jahren konnte er ihr dabei zur Hand gehen. Er empfand es keineswegs als mühseelig, seiner Mutter beim Putzen zu helfen. Er konnte sich kein anderes Leben vorstellen. Als Kind fühlte er sich glücklich. Er genoss ihre Gesellschaft. Die beiden waren unzertrennlich. Nur selten bekam er seinen Vater zu Gesicht, der kurz vor seinem 10ten Lebensjahr plötzlich an einem Hirnschlag starb. Er litt nicht sonderlich darunter. Sein Vater hatte er stets als abgemagertes Häuflein Elend in Erinnerung.
Als nun die beiden ganz auf sich allein gestellt waren, fehlten ihnen die Mittel, um sich einen festen Wohnsitz zu finanzieren. Als ewig Reisende schliefen sie stets unmittelbar in der Nähe ihres gegenwärtigen Arbeitsplatzes. Der Junge empfand dieses Leben als nicht weniger aufregend. Viel hatte sich im Grunde für ihn nicht geändert. Schon vor dem Tod seines Vaters reisten sie aus beruflichen Gründen viel umher. Auch zu der Zeit waren sie desöftern gezwungen, in der Nähe ihres Einsatzortes zu schlafen. Seine Mutter hatte es nicht versäumt, ihn zu unterrichten. Schon als drei Jähriger beherrescht er das ABC und den Umgang mit Zahlen. Bald schon überflügelte er seine Mutter an Wissen und nahm seine autodidaktische Ausbildung selbst in die Hand. Er begann Hilfsmittel zu basteln, um sich und seiner Mutter das Putzen zu erleichtern. Die beiden hatten Grosses vor. Sie gedachten eines Tages die Erde verlassen. Doch um sich so eine Reise zu leisten, mussten sie noch einige Jahre arbeiten. Die beiden waren jedoch guter Dinge. Sie putzten, träumten von ihrer Ausreise und sparten, wo sie nur konnten.
Am 31. August 2356, als er sich und seine Mutter beschlossen, eine Auszeit zu gönnen, um im Tansanikasee zu baden, dröhnte es Sirenenartig auf dem ganzen Erdball. Die Menschen hier waren in höllischer Aufregung. Es war die Rede von der Gründung eines in sich geschlossenen Erdenstaates. Die neuen Diktatoren nannten sich die Gründer einer neuen Welt, einer besseren Welt, welche sich von der übrigen Welt abschottete. Von diesem Tage an herrschte striktes Ausreiseverbot.

«…Für meine Mutter bedeutete dies ein schrecklicher Verlust. Niemals mehr die Möglichkeit haben auszureisen, kam für sie einer Hiobsbotschaft gleich. Auf mich wirkte diese Nachricht weniger dramatisch. Für mich zählte nur die Tatsache, dass ich mit meiner Mutter zusammen sein durfte. Doch so sehr ich mich darum bemühte, ihren Lebensmut aufrecht zu erhalten, sie gab innerlich auf. Von dem Tage an, als sie und all die anderen Erdenbewohner offiziell das Ausreiseverbot erhielten, fühlte sie sich all ihren Kräfte beraubt. Das Putzen fiel ihr von Tag zu Tag immer schwerer. Dafür arbeitete ich umso intensiver. Ich wollte meine Mutter nicht verlieren. Während ihre Kräfte schwanden, putzte ich unermüdlich. Aber auch ich vermochte nicht zu verhindern, dass sie negativ auffiel. Sie verstritt sich mit anderen aus dem Putzpersonal. Einmal beschimpfte sie sogar einen ihrer Vorgesetzten. Auf der Erde wehte nun ein ganz anderer Wind. Wirtschaftlicher Wachstum, Erfolg, Rationialisierung, etc., gehörten nun zum üblichen Sprachgebrauch. Von nun an zählte jedes Individuum, egal wie viel es wert war. Jeder hatte nun eine Inspektion zu durchlaufen, damit sein wirtschaftlicher Wert errechnet werden konnte. Bei meiner Mutter stellte man sofort fest, dass sie für das Putzen nicht mehr geeignet war.
Ihr Geist war seit der Ernennung des neuen Erdenstaates am 31. August 2356 so verfallen, dass sie zu gar nichts mehr zu taugen schien. Man hielt es für das Beste, sie in eine Besserungsanstalt einzuweisen, damit ihre noch verbliebenen Qualitäten als Arbeitskraft herausgefiltert und gefördert werden konnten. Für mich brach damals eine Welt zusammen. Das war am 6. August 2358. Aus ökonomischen Gründen hielt man es nicht für nötig, mich einer Inspektion zu unterziehen. Denn man hatte schnell erkannt, dass ich aufgrund meiner ständigen Bemühungen, die Effizienz in meiner Arbeit als Hygienefachkraft zu erhöhen, meine richtige Position inne zu haben schien. Und so begann meine Karriere als Hygienexperte.
Schon bald stieg ich die Karriereleiter hoch. Noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag war ich Gruppenführer. Ich begann Programme zu entwickeln. Man bezeichnete mich als eine Bereicherung im technischen, logistischen und sozialen Bereich. Bereits mit 21 ernannte man mich zum Ausbilder. Ich begann über meine Arbeit zu schreiben, hielt Vorlesungen und wurde bald zu einer anerkannten Choriphäe auf dem Gebiet der Hygiene.
Ich erlebte meine erste Krise mit 25, als mir plötzlich bewusst wurde, wie vermögend ich war. Ich konnte mir so gut wie alles leisten. Ich hatte genügend Freizeit, wohnte in einem ansehnlichen Appartement und schien für alle Zeiten ausgesorgt zu haben. Nur etwas konnte ich nicht. Mir fehlte die offizielle Genehmigung auszureisen. Auf einmal verspürte ich den Drang, die anderen Planeten kennen zu lernen. All das blieb mir verwehrt. Nun endlich verstand ich meine Mutter, welche zu Grunde ging, weil sie es nicht ertrug, eine Gefangene auf dem Planeten Erde zu sein. Gerne hätte ich mit ihr gesprochen.
Als ich vor ein paar Jahren genügend finanzielle Mittel zur Verfügung hatte, um das Sorgerecht für meine gebrochene und nicht mehr zurechnungsfähige Mutter zu erwerben, war sie tot. Sie starb während ihrer Arbeit. Sie war dabei eines ihrer monotonen Tätigkeiten am Fliessband zu verrichten. Sie erlitt einen Herzinfarkt. Schnell und überraschend wurde sie vom Tot geholt. Um nicht so zu enden wie meine Mutter, brauchte ich ein Ventil, um meinen aufgestauten Emotionen Luft zu machen. Ich begann mich mit der Esoterik zu befassen.
Dieses Thema war auf der Erde verhasst. Obwohl man sich jahrelang mit den Prophezeihungen von Nostradamus befasst hatte, wurde sie nun zu unnützen Hirngespinsten abgestempelt. Doch ich wusste es besser und auch viele andere Menschen teilten meine Gedanken von einer besseren Zukunft und einer Existenz ausserhalb dieser kalten materialistischen Welt. Bereits als 25 Jähriger begann ich eigene Texte zu verfasse und sie in Umlauf zu bringen. Natürlich legte ich mir einen andern Namen zu.
Der Name Emu war geboren. Die Welt sollte nun erfahren, was Emu zu berichten hatte. In mir vollzog sich eine unglaubliche Wandlung. Mein Geist öffnete sich dank meiner täglichen Meditationsübungen. Schneller als erwartet vermochte sich mein Geist mit den kosmischen Schwingungen zu verlinken. Dabei erwarb ich Wissen, dass alles bisherige, was ich je in meinem Leben gelernt hatte, in den Schatten stellte. Nichts konnte mich daran hindern, mein Wissen mitzuteilen. Dank meines umfangreichen technischen Wissens schaffte ich es, dass auch die fortgeschrittenen Menschen ausserhalb der Erde von meinen Mitteilungen erfuhren. Ich sah weiter in die Zukunft als je ein Sterblicher vor mir. Ich sah den Untergang der menschlichen Zivilisation und die Wiedergeburt einer neuen Zivilisation. Ich sah noch weiter in die Zukunft. Die menschliche Spezie sollte aber nicht untergehen. Nachdem die menschliche Spezie jahrtausende lang unterdrückt, erniedrigt und missbraucht werden würde, sollte wieder Hoffnung für sie bestehen…».

Lauren fühlt sich umgeben von Unwissenden. Kann es sein, dass Leonora schon die Dramatik des Ausgangs ihrer Spezie auszumachen vermag? Und Nelson, der ihr nur scheinbar so teilnahmsvoll zuhört, was kann er schon über die Berichte von Emu wissen? Lauren ist der festen Überzeugung, dass Nelson auch ein Unwissender, zumindest ein Halbunwissender ist. Er weiss mehr als der Rest der Welt, weil er ein offenes Ohr für dieses Mädchen hat, welche Wissenswertes von sich gibt. Für Lauren ist es kaum fassbar, dass gerade Leonora mit ihren gerade mal fünf Jahren, sein Wissen teilt. Vorsichtig blickt er zu seinem Vater hoch.
«Glaubst du, was Leonora gesagt hat?», schiesst es aus ihm unerwartetweise heraus.
Nelson blickt zu Leonora hoch, die immer noch auf seinen Schultern sitzt.
«Leonora, Leonora!».
Nelson muss mehrmals ihren Namen rufen, bis sie endlich von ihren Wachträumen herausgeholt wird.
«Glaubst du, dass die Menschheit untergeht?».
Leonora starrt in die Fremde.
Endlich erreichen sie das Anwesen von Sebastians Familie. Der Urwald, die Fitnessanlagen, der See und die vielen Gärten, all das gehört zum Anwesen. Sebastians Kinder und seine Frau Schulu haben sich diese Annehmlichkeiten rediglich verdient. In der Zeitspanne vom 6. Juni 2965 bis zum 21. Mai 2979 erlebten sie die Hölle auf Neptun. Bis zum Tag der grossen Auflösung der alten Regeln lebten sie wie Sträflinge. Davor, also bis zum 5. Juni 2965 führten sie trotz der herrschenden politischen Spannungen ein normales Leben. Das änderte sich schlagartig über nacht. Celestine, die Ehefrau von Nelson und ihre Kinder, wurden zwangsumgesiedelt, während Schulu und ihre Kinder hier blieben. Ab dem 6. Juni 2965 war ihr Leben von Terror, Angst, Strapazen und Demütigungen bestimmt. Kraulus, Urus und Philophena, welche sich in ihrem elfenartigen kleinwüchsigen Aussehen stark ähnelten, reagierten sehr unterschiedlich auf die dramatische Veränderung ihres Lebens. Schulu, ihre Mutter, versuchte mit aller Kraft ihre Familie zusammen zu halten…

Es war der 5. Juni 2965. Schulu fühlte sich angespannt wie immer. Seit dem Verlassen ihres Ehemannes, Sebastian, war sie auf sich allein gestellt. Bis zum 25. Januar 2964 hatte sie sich zumindest auf Nelson verlassen können. Er war ihr eine grosse Stütze. Weniger in menschlichen Fragen, aber dafür in technischen Angelegenheiten beriet er sie, wo immer er konnte. Als er sich dann Sebastian und Hyronimus angeschlossen hatte, um einer grossen Sache zu dienen, nämlich der Befreiung der Menschheit von der Diktatur, hatte sie damit begonnen einen Hass auf Sebastian, ihrem Ehemann und Nelson zu entwickeln. Sie übertrug den Hass auch auf ihre Kinder. Kraulus, Urus und Philophena gingen damit unterschiedlich um. Während Kraulus sich demonstrativ gegen die herrschende Diktatur stellte, indem er öffentliche Reden schwang oder Texte in der Schule verfasste, die klar als staatsfeindlich eingestuft wurden, führte Urus eine Gruppe kampfeswütiger Kinder, welche nur darauf warteten den Staat zu sabotieren. Beide waren sich in einem Punkt einig, nämlich dass ihr Vater und Nelson Verräter wären, welche sie im Stich gelassen hätten. Philophena war stets bemüht, den Frieden in der Familie aufrecht zu erhalten. Auch sie erkannte die Gefahren, welche draussen auf sie lauerten. Sie informierte sich tagtäglich über die politische Entwicklung im Staat. Sie erinnerte sich noch gut an die Worte ihres Vaters, Sebastian:
«Nelson, Hyronimus und ich sind der Beweis dafür, dass die beiden Seiten, Staatsanhänger und Rebellen, sich auf künstliche Weise stark entfremdet haben. Hyronimus, der sich selbst als der Gründer des Staates betrachtet, Nelson und ich, welche uns von Anfang an gegen das System entschieden haben, ereilt dasselbe Schicksal. Wir drei sind hilflose stille Beobachter eines stetig wachsenden Dramas…».
Philophena glaubte, ihren Vater richtig verstanden zu haben. Was die drei Männer vorhatten, war also nicht die Planung eines Kampfes gegen die Diktatur, sondern die Schlichtung von Differenzen. Vielleicht würden sie es schaffen, die beiden Parteien davon zu überzeugen, dass eine Einigung sinnvoller wäre als der ständige Versuch einer gegenseitigen Vernichtung.
Der 5. Juni 2965 war ein herrlicher Tag. Zum ersten Mal seit langem beschloss die Familie wieder einmal etwas Gemeinsames zu unternehmen. Spontan bestiegen sie ihr Raumschiff, um die Landschaft von Neptun zu erkunden. Sie mussten aufpassen, nicht irgendwelchen Staatsicherheitsleuten zu begegnen, welche sie womöglich noch als rebellische Verräter eingestuft hätten. Da sie es als zu riskant fanden, den Planeten Neptun zu verlassen, entschieden sie sich für das berühmte wilde neptunianische Meer mit den hohen Wellen. Sie waren alles ausgezeichnete Schwimmer und fürchteten sich nicht vor den bis zu 4m hohen Wellen. Dank ihren Mikrogeneratoren, welche sich mit dem Innern ihres Körpers verlinked hatte, konnte sie auch zur Not untertauchen und unter Wasser sogar atmen. Nach einem ausgiebigen halsbrecherischen Ritt auf den Wellen sonnten sie sich am Strand. Sie waren nicht die einzigen. Eine 8-Köpfige Familie platzierte sich gleich neben ihnen, um ihnen von Anfang an feindseelige und bedrohliche Blicke zu zuwerfen.
Eines der Kinder ging mit Kraulus in dieselbe Klasse. Sein Name war Steburt. In der Schule galt er als ein radikaler Verfechter des Systems und des neuen Regimes. Kraulus empörte sich immer wieder über seine radikalen Ansichten. Steburt vertrat die Meinung, dass es das Beste sei, wenn man alle Menschen, welche nicht dem politischen Bild eines treuen Systemsanhängers entsprachen, ausgegliedern würde. Kraulus erwiderte seinen Blick und setzte demonstrativ eine arrogante Miene auf.
«Das ist also dieses Arschloch! », brummte Urus, der sich plötzlich aufrichtete, um wieder im Wasser zu schwimmen.
Er warf einen herausfordernden Blick auf die Familie, in der Hoffnung, sie würden sich dadurch provoziert fühlen. In der Tat standen ein paar Jungs, gross und athletisch auf, um ihm zu folgen. Kraulus lag immer noch mit dem Rücken auf dem Sand und beobachtete das Szenario mit gemischten Gefühlen. Er zögerte, in der Hoffnung, sie würden seinen jüngeren Bruder in Ruhe lassen. Doch sein Stolz verbot es ihm, tatenlos zu sehen, wie man eines seiner Familienmitglieder bedrängte. Die vier Jungs zögerten nicht, ihn von allen Seiten zu attackieren. Kraulus stellte mit innerer Genugtuung fest, wie geschickt Urus ihnen im Wasser auszuweichen wusste. Doch er wich ihnen nicht nur aus. Wie ein wendiger Hai blieb er in derer Nähe, bis er eine Gelegenheit fand, sie ebenfalls anzugreifen. Schnell und unerwartet schoss er wie ein Pfeil durch das Wasser und zog den Ältesten der vier unter Wasser. Unter Wasser umschlang er ihn mit seinen kurzen Armen, um ihn zu drehen, zu drehen, zu drehen, bis ihm, dem grossen starken Burschen, ganz schwindlig wurde. Seine Brüder schwammen herbei, um ihn aus den Fängen von Urus retten. Rechteitig liess ihn Urus los, um wieder zurück zukehren und sich ein neues Opfer zu holen. Drei von ihnen konnte er mit Leichtigkeit überwältigen. Den vierten liess er an Land schwimmen. Alle vier gaben sich geschlagen, während Urus sie verhöhnte.
Die Eltern zeigten sich darüber sichtlich empört, dass sich jemand erlaubte eines seiner Kinder auf diese Weise ins Lächerliche zu ziehen. Wutentbrannt rannte der beharrte Koloss, der Vater, ins Wasser. Urus näherte sich dem erwachsenen Mann, um ihm im letzten Moment noch ausweichen zu können. Es war unmöglich den winzigen elfenartigen Burschen zu fangen. Endlich gab der Mann es auf und schwamm zum Ufer zurück. Urus kehrte ein paar Minuten später als Sieger zurück.
«Du kannst es nicht sein lassen, die Welt um dich herum verrückt zu machen!», bemerkte Philophena lächelnd, als er sich zu ihr hinlegte.
Doch ihr verging rasch das Lachen, als sie bemerkte, mit welch grossem Hass die 8-köpfige Familie zu ihnen rüberschaute. Einige der älteren Jungs starrten immer zu auf ihren noch für ihr Alter unterentwickelten Körper. Sie versuchte gegen ihre Schamgefühle anzukämpfen. Ihr fielen auf einmal die Horrorgeschichten ein, welche sie im staatlichen Netz in Erfahrung bringen konnte. Ganze Familien wurden in Kolonien transportiert. Dort beutete man sie aus. Wenn man Pech hatte, wurden die Kinder von ihren Eltern getrennt. Erschöpft und irgendwie beunruhigt stiegen sie in ihr Raumschiff. Es begann bereits zu dämmern. Die Gefahr von übereifrigen Sicherheitsleuten überrascht zu werden, stieg nun an. Nachts lauerten diese Beamten fast hinter jeder Ecke.
Zu Hause schuf die Mutter, Schule, für ihre Kinder eine heimelige Athmosphäre, indem sie ihnen einen saftigen Kuchen zubereitete. Er schmeckte hervorragend. Die mit Schokolade durchtränkte Masse zerging ihnen wie Butter im Mund. Das schwache Rhumaroma verlieh dem Geschmack eine gewisse Note. Philophena liess jeden Bissen im Munde zergehen und schaffte es all ihre bösen Bilder aus dem Kopf zu verbannen. Sie lächelte ihre Mutter an, in der Hoffnung, dass sie friedlich bliebe und nicht immer über ihren Ehemann und Vater ihrer gemeinsamen Kinder fluchte. Während die beiden Jungs, Kraulus und Urus auf ihre extrem unterschiedliche Weise über das Regime herzogen, genossen Schulu und Philophena einfach die Ruhe und den Frieden. Erschöpft legte sich Philophena schlafen.
Normalerweise liess sie immer Erinnerungen durch ihren Kopf ziehen, doch dieses Mal fühlte sie sich mit der Welt im Reinen. Sie schloss die Augen und sank in einen tiefen traumlosen Schlaf. Kraulus begann seinen hitzigen Bruder zu provozieren, indem er ihm ständig daran erinnerte, wie ungeschickt er mit seiner Sprache umging. Schulu, ihre Mutter musste ständig intervenieren, um den aufbrausenden Urus zu beruhigen und Kraulus davon abzuhalten, seinen Bruder noch mehr aufzustacheln. Schlussendlich schaffte sie es, dass sich ihre Gemüter beruhigten und sie ebenfalls zu Bett gingen. Auch Schulu legte sich schlafen. Doch sie fand keinen richtigen Schlaf. Immer wieder wachte sie auf und sah nach den Kindern. Alle schliefen tief und fest. Es war bereits vier Uhr morgens. Sie blickte aus dem Fenster.
In der Dunkelheit erkannte sie nur die Umrisse einiger Gebüsche. Etwas schien draussen auf sie zu lauern. Sie vermochte ihre Angstgefühle kaum noch zu kontrollieren. Am liebsten hätte sie ihre Kinder geweckt. Doch das brachte sie nicht übers Herz. Denn sie schliefen so tief. Wie üblich begann sie Sebastian zu vermissen, sobald es dunkelte, um ihn am nächsten morgen wieder zu hassen. Hin und wieder erhellte sich der Himmel, begleitet von einem zischenden Geräusch. Das kam ihr etwas merkwürdig vor. Sie dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Es verging noch eine weitere Stunde, bis auf einmal ein Riesenknall sie aus ihren Träumen riss.
Sie musste kurz eingenickt sein. Durch das Fenster konnte sie nur grelles Licht erkennen, das so hell war, dass sie glaubte, die Sonne wäre vor ihrem Haus gesürzt. Instinktiv rannte sie nach oben zu ihren Kinder. Sie schliefen immer noch friedlich und nichts ahnend. Sie weckte zuerst Philophena. Sie schüttelte sie, so dass sie erschreckt aus dem Bett hüpfte und sich dabei fast verletzte. Widerwillig richtete sie sich auf. Sie vermutete, dass ihre Mutter wieder von einem ihrer paranoiden hysterischen Anfälle heimgesucht wurde.
«Schnell, wir müssen die anderen wecken! Es ist etwas passiert! Ein Knall, ich weiss nicht, was das alles soll!».
«Ja, ja, Mutter! Mach ich, mach ich! Aber bitte, beruhige dich wieder!».
Ihre Stimme klang fürsorglich, als ob sie mit einem verängstigten Kleinkind spräche.
Kraulus liess sich mühelos wecken. Nur bei Urus hatten sie Mühe. Wenn er einmal schlief, konnte ihn fast nichts aus dem Schlaf reissen. Plötzlich hämmerte es unten an der mächtigen Türe aus Eichenholz. Schulu, Kraulus und Philophena sahen sich voller Angst an. Urus schlief noch immer. Die Tür wurde auf einmal in die Luft gesprengt. Uniformierte stürmten herein.
«Ihr verdammten Rebellen, wo habt ihr euch verkriecht?».
Während Philophena voller Angst sich an ihre Mutter schmiegte, griff Kraulus nach einem Baseballschläger. Er, der es vorzog, seinen aggressiven Gefühlen durch bissige Worte Luft zu verschaffen, fühlte sich nun in der Rolle des Beschützers hineinversetzt. Endlich begann Urus zu blinzeln. Erstaunt, aber immer noch schläfrig, betrachtete er Philophena und seine Mutter, wie sie vor Angst zitterten und Kraulus, wie er mit dem Schläger in Kampfesstellung auf die Eindringlinge wartete. Urus sprang aus dem Bett und zog sich rasch etwas über. Er fühlte sich noch immer etwas benommen. Die Uniformierten stürmten nach oben. Es war für sie ein Leichtes den bald 16 Jährigen die Waffe aus der Hand zu reissen. Philophena und Schulu wurden voneinander getrennt.
Urus, der sich auf dem Lande genauso geschickt zu bewegen wusste wie unter Wasser, schaffte es tatsächlich, die Uniformierten durch eine Kombination von verschiedenen Ausweichmanövern zu entkommen. Wie ein Wiesel liess er die grossen Männer alt aussehen. Sie versuchten verzweifelt nach ihm zu greifen. Doch Urus flüchtete nach draussen, wo ihn ein Bild des Schreckens erwartete. In dem ganzen Chaos fiel es ihm nicht schwer, nicht aufzufallen. Mit Entsetzen beobachtete er viele Familien, welche auseinandergerissen wurden. Die brennenden Häuser, Bäume und Anlagen verliehen der Umgebung ein Bild von einem Inferno. Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie man seine Familie abführte. Sie wurden in das Innere eines Transportwagens geschleppt, von wo aus es kein Entrinnen mehr gab.
Er folgte einer unsichtbaren inneren Stimme. Er schien zu wissen, was zu tun war. Er sprintete zu dem Ort, wo er sich mit den anderen seiner Clique im Falle einer Situation wie diese hier, treffen sollte. Das gehörte zu ihrem Plan. Mitten im gefährlichsten Urwald der Umgebung erreichte er die Lichtung, wo er die anderen erwartete. Sie tauchten tatsächlich auf. Einer nach dem anderen machte sich mit seinen Geheimrufen bemerkbar. Urus erwartete seine Krieger, so nannte er seine Anhänger, deren Anzahl inzwischen bei über hundert lag, voller Euphorie. Umgeben von uralten Bäumen starrte er gen Himmel und schrie aus Leibeskräften:
«Wir kommen! Wir kommen!».
Die anderen folgten seinem Ruf. Im Chor schrien sie dann alle, so laut sie nur konnten. In den folgenden Wochen wurde Mitten im Urwald ein Riesenghetto errichtet. Urus’ Späher fanden heraus, dass Schulu, seine Mutter, eines der Gefangenen waren. Von seinen Geschwistern fehlte jegliche Spur. Dem winzigen Anführer fiel es leicht seine Mannschaft dazu zu überreden, das Ghetto zu überfallen. Ohne gross Vorbereitungen zu treffen, begannen sie die Beamten, die damit beschäftigt waren, den Aufbau des Grundmauerwerks
dieses gigantischen Gefängnisses voranzutreiben, anzugreifen. Sie schafften es sogar, dass sie einige Gefangene, welche mit dem Bau des Ghettos beschäftigt waren, befreien konnten.
Es verging nicht einmal einen Monat, als ein Spezialtrupp vom Staat den Auftrag erhielt, diesen Aufsässigen zuvor zu kommen. Dieses Spezialkommando bestand aus extrem gut ausgebildeten Soldaten, welche es verstanden den Gegnern sowohl im Nahkampf, als auch von grossen Entfernungen aus, zu vernichten. Wie Rauptiere näherten sie sich leise und vollgepumpt mit Adrenalin den ahnungslosen Kids. Urus und die anderen, welche es sich in ihrer neuen Umgebung gemütlich gemacht hatten, erkannte zu spät, dass sich ihnen von allen Seiten Topmänner und Frauen mit ihren übermenschlich trainnierten Körpern näherten.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich unsicher, hilflos und überfordert. Statt seinen Leuten, ebenfalls noch Kinder, die Anweisung zu geben, zu flüchten, schien er innerlich zu erstarrten. Leise und brutal überwältigten die Soldaten die Kids. Der ehemalige Anführer stand nur hilflos da und wartete voller Panik auf das Ende. Er landete in eines dieser Straflager für Schwerverbrecher. Für die folgenden 14 Jahre wurde das sein zu Hause…

  
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