«Alle Mann an Deeeeeeeeck!», schreit der blonde Riese mit donnernder Stimme, die für gewöhnlich sanft, schön und verträumt klingt.
Gerade eben hat er seiner Mannschaft eine verheissungsvolle Rede über ihre bevorstehenden Eroberungszüge auf dem neptunischen Meer, das von vielen Touristen, aber auch von skrupellosen Händlern bereist wird, gehalten. Jetzt rennen sie in wildem Eifer in das Schiff, das Klaus mit seinen blossen Händen baute. Neunzehn Jahre brauchte er dafür. Er wäre früher damit fertig gewesen, wenn er nicht so ein aussschweifendes Leben geführt hätte. Saufen, Herumhuren und sich auf üble Schlägereien einlassen, ja, das gehörte ebenfalls zum Leben jenes sonst sanftmütigen und mitfühlenden Menschen mit den schönen blauen Augen und den sinnlichen Lippen. Doch tief in seinem Herzen pulsierte sein Traum von der ewigen Freiheit. Er hatte es nicht eilig damit, aus seinem Alltagstrott zu flüchten. Ihm reichte die Gewissheit, dass er eines Tages aus seinem alten Leben ausbrechen würde.
Der Mann, der neben ihm steht, Karl Johnson, hatte niemals einen Traum. Zumindest glaubte er das. Er schien sich mit seinem eintönigen und einsamen Leben abgefunden zu haben. Seine beruflichen Aussichten waren immerhin viel versprechend. Doch genügte das zu seinem Glück? Selbstverständlich nicht! Wie sehr er sich doch nach einem weiblichen Wesen sehnte. Jede Faser seines Körpers verzerrte sich nach einer zärtlichen Berührung. Wenn eine stolze Frau an ihm vorbeirauschte, richteten sich all seine Sinne nach dieser verheissungsvollen Erscheinung, nur um dann resigniert zu erkennen, dass sie für ihn unerreichbar zu sein schien.
Auch jetzt, so wie er dasteht und voller Euphorie die vielen Männer in dieses Schiff hineinstürmen sieht, sehnt er sich im Grunde nur nach einer Frau, die ihn von ganzem Herzen liebt. Doch er wagt es nicht, auch nur ein Sterbenswort in der Öffentlichkeit über seine Sehnsüchte fallen zu lassen, nicht einmal in Anwesenheit von Klaus Störtebeker, dessen Blick so klar und siegessicher ist, wie der von einem waschechten Piraten. Plötzlich dreht er sich zu ihm um. Karl zuckt fast zusammen. Seine gigantische Erscheinung schüchtert ihn auch ein wenig ein. Behutsam legt er seine schwere Hand auf Karls Schultern.
«Danke, mein Freund! Das werde ich dir nicht vergessen! Du, nur du allein, hast das hier möglich gemacht! Ha, ha, sieh sie sie dir bloss an! Wie die Kinder! Aber hey, das sind richtige Männer, die auf ihren Augenblick gewartet haben! Und du, mein Freund, hast das möglich gemacht!».
Klaus Stimme klingt wieder so anmutig wie damals, als er am 1. Juni, also genau vor sieben Tagen in sein Büro hineingeschneit kam. Er blickt ihm tief in die Augen. Karl erlebt diesen Moment als einmalig, obwohl ihm dabei tausend Gedanken durch den Kopf schwirren. Immer wieder durchlebt er all die logistischen Anstrengungen, die er unternommen hat, um dieses gigantische Piratenschiff von Uranus direkt auf die neptunische Küste im Nordosten zu verpflanzen. Noch ehe er seine Stelle kündigte, sorgte er dafür, dass Klaus und all die Männern, die diese Mannschaft bilden, einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhielten, um den Weg in ihre Freiheit zu ebnen.
Ohne einen Arbeitsvertrag hätten sie niemals die offizielle Genehmigung erhalten, hier in Neptun sich ihrer neuen beruflichen Herausforderung stellen zu können. Als Rechtfertigung dafür, dass eine astronomisch hohe Zahl von Punkten verschwendet werden mussten, um dieses riesige Schiff hierher verlegen, diente bloss das Argument des hohen Bedarfs an Freiwilligen, die die vielen Andruiden dabei unterstützten, das Meer zu säubern. Offiziell erfüllten die «Piraten» den staatlichen Auftrag an der Gesundung der Umwelt beizutragen. Da die meisten von ihnen keine vernünftige Ausbildung genossen hatten, erwies es sich als besonders schwierig ihre Funktionen offiziell zu definieren.
Doch irgendwie klappte es und nun sind sie in hellem Eifer damit beschäftigt, das Schiff einzurichten. Karl beobachtet das hektische Treiben mit gemischten Gefühlen. Er fühlt sich einerseits berauscht, andererseits jedoch etwas deplaziert. Er, der das alles hier auf die Beine gestellt hat, all die technischen Geräte organisiert hat, welche für die Säuberung des Wassers von Nöten sind, ist mit der Situation überfordert. Doch allmählich beruhigt er sich, als er feststellt, wie selbstsicher und souverän Klaus seine Mannschaft dirigiert. Obwohl dieser Überlebenskünstler von einem Träumer nicht die geringste Ahnung hat, mit was für Arbeitsinstrumenten er es hier zu tun hat, lässt er sie von seiner Crew zielsicher am richtigen Ort verstauen. Was die Steuerung des Schiffes, der Navigierung und klassischen Matrosenbegriffen betrifft, so ist Klaus mit allen Wassern gewaschen.
«So, mein lieber Freund, Karl! Du ruhst dich jetzt am besten aus! Du kannst jetzt sowieso nichts machen! Du kannst mir vertrauen! Ich habe alles im Griff! Geh du nur in dein Zimmer! Geh einfach die Treppen hinunter, dann rechts und einfach die Naselang! Ha, ha, ha!».
Diese Anweisung kommt klar rüber. Wie sich der Kapitän so vor ihm aufrichtet, ist er fast dazu geneigt, ihm mit «Aye, aye, Kapitän!» zu antworten.
«Ja, okay! Ist gut! Na dann! Wir sehen uns!», erwidert er jedoch unsicher.
Insgeheim wünscht er sich, er könne sich ihm gegenüber vertrauensseliger, spontaner und freundschaftlicher zeigen. Doch das war niemals seine Stärke. Auf dem Weg zu seinem Arbeits- und Schlafzimmer lässt er keine Gelegenheit aus, die Inneneinrichtung des Schiffes zu bestaunen. Das ist das Werk eines Genies, Künstlers und Menschen voller Leidenschaft. Kaum zu glauben, dass das ein unreiner, unqualifizierter Hilfsarbeiter konstruierte. Als er sein Zimmer betritt, füllen sich seine Augen mit Tränen. Was er jetzt antrifft, übersteigt all seine bisherigen Erwartungen. Voller Entzücken betrachtet er den riesigen Arbeitstisch aus massivem Mahagoniholz. Er schreitet darauf zu und blickt auf das uralte Pergamentpapier herab, auf dem das gesamte Kartensystem abgebildet ist. Gleich daneben steht eine Vase mit den wunderschönsten Veilchen, die man sich nur vorstellen kann.
«Willkommen, mein Freund!».
Die Begrüssungskarte, welche neben der Feder, die ihm Tintenfass steckt, platziert ist, lenkt sofort seine Aufmerksamkeit auf ihn. Er wagt es nicht sie zu berühren. Zuerst muss er sich hier noch umsehen. Er entdeckt einen wunderschönen Kronleuchter, ein riesiges Himmelbett, einen stabilen Kleiderschrank und einen Perserteppich. Statt sich zu fragen, woher Klaus die Mittel für all diese Antiquitäten besass, lässt er das Gefühl der Liebe in sich aufsteigen, das er in diesem Moment gerade spürt. Es handelt sich um die wahre Freundschaft eines Menschen. Dass ihm eines Tages die Ehre zuteil werden würde, auf diese Weise wertgeschätzt zu werden, hätte er nicht einmal in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt.