Spätestens Zuhause wandelte sich mein Schockzustand in überschwänglicher Freude um. Euphorisch verbrachte ich die folgenden Tage mit Nichtstun. Ich unternahm fast jeden Tag etwas mit meinen kleinsten Geschwistern. Ich hatte sie in letzter Zeit stark vernachlässigt. Meinem vierjährigen Schwesterlein brachte ich noch rasch innerhalb von ein paar Tagen das Fahrradfahren bei. Dabei erhielten einige Autos, die geparkt hatten, üble Kratzer. Ich wurde deswegen niemals zur Rechenschaft gezogen, weil ich mich noch rechtzeitig mit meiner Schwester aus dem Staub machte.
Die Maturfeier erwies sich als weniger bedeutend, als ich erwartet hätte. Obwohl es auch dort Frauen gab, die mich interessiert hätten, unternahm ich nichts, um sie näher kennen zu lernen. Meine Euphorie liess mich alles in einem verklärten Licht sehen. Diese Zusammenkunft von Maturanten erlebte ich damals als sehr beeindruckend. Mit nüchternem Verstand hätte ich mich dort bestimmt gelangweilt. Zu den meisten hatte ich kein tiefes Verhältnis. Ich versteckte mich hinter meiner Fassade und regte mich noch nicht einmal auf, dass die astronomisch hohen Preise für die Getränke unter uns aufgeteilt wurden, obwohl ich kaum etwas getrunken hatte. Ich kann mich im besten Willen nicht mehr erinnern, mit wem ich mich dort unterhalten hatte.
Einmal umarmte mich der Direktor, der uns auch in Mathematik unterrichtet hatte. Der andere Lehrer, der Alkoholiker, umarmte mich sogar. Ich sah den beiden an, dass ich sie überrascht hatte. Sie hätten mir niemals zugetraut, dass ich es schaffen würde. Am Schluss verabschiedete ich mich von meinen ehemaligen Mitschülern und Lehrern. Einem Lehrer sollte ich viele Jahre später begegnen. Er erzählte mir seine Herzergreifende Geschichte auf sehr beeindruckende Weise. Ich hatte ihn noch niemals so aufgefühlt und am Boden zerstört erlebt. Er war mein Lateinlehrer gewesen.
«Man hatte mich aus der Schule ausgeekelt! Gemobbt hatte man mich!».
Ich fühlte mich innerlich sehr betroffen. Für mich stellte Mobbing kein Fremdwort dar. Doch es kam noch schlimmer. Wieder einige Jahre später sah ich diesen Mann, den ich wegen seiner Menschlichkeit, Würde und Intelligenz so hoch geschätzt hatte, wie ein verlorener Geist durch die Gassen irren. Erst kürzlich blickte ich aus dem Bus und sah ihn in der Rebgasse schlendern. Sein langes Haar war inzwischen schneeweiss. Ich machte meine Frau auf ihn aufmerksam und berichtete ihr, dass ich diesem Mann zu verdanken hatte, dass ich im Latein so aufgeblüht war. Was ist aus diesem Mann geworden? Hat er überhaupt eine Bleibe? Unter welch schrecklichen Umständen lebt er? Was muss ein Mensch erlebt haben, um so zu enden? Eins ist klar! Dieser Mann hat es nicht verdient so zu leben! Denn diese Gestalt, die heute wegen seiner Erscheinung als Irren und Penner bezeichnet und belächelt wird, war ein Held! Auf seine bedächtige und weise Art führte er uns Schülern auf dem geistigen Pfad des Erfolgs. Er verdient es eigentlich geehrt zu werden! Eine Ehrenmedaille müsste man ihm überreichen und ihn zum Ehrenbürger der Stadt Basel küren…
Mein berauschendes Gefühl der Euphorie ebbte schnell ab und kippte in sorgenvoller Angst um, weil mir mit einem Male bewusst wurde, dass ich mein Ziel noch nicht erreicht hatte. Der Maturitätsausweis, von dem ich so viele Jahre lang geträumt hatte, stellte in meinem Leben nur eine Hürde dar, die ich nun erfolgreich überwunden hatte. Doch nun standen mir weitere Prüfungen bevor, die zu bestehen, bestimmt nicht leichter sein würden als all meine bisherigen Prüfungen. Ich begann mich erneut mit meinen alt vertrauten Fragen zu quälen.
«Was wäre, wenn ich versage?»
Meine Mutter machte mich darauf aufmerksam, dass mein einziger Feind meine Angst wäre! Das hinderte mich nicht daran, weiterhin meine Angst, wie meine Freundin zu hegen und zu pflegen. Ich bin in ein Stehaufmännchen. Mal erlebt man mich am Boden zerstört, dann wieder froh Himmel jauchzend! Ich schob plötzlich meine Angst beiseite und wiegte mich in der blinden Hoffnung, dass die Welt in Ordnung wäre. Voller Elan stürzte ich mich in die erste Woche meines ersten Semesters der Humanmedizin. Ich traf sogar auf ein paar Kommilitonen, die ich von früher her kannte. Einige besuchten mit mir die Staatsschule bevor ich in die Privatschule für Erwachsene wechselte. Einige kannte ich aus der Zeit, als sie mit mir zusammen maturierten. Als ich den riesigen Hörsaal betrat, wurde mir bange. Es war mehr als Respekt, das ich bei dem majestätischen Anblick dieses riesigen Raumes empfand. Ehrfurcht! Die erste Woche meisterte ich ohne grosse Zwischenfälle. Ich besuchte die Vorlesungen und kam immer mit.
Doch in der zweiten Woche am Dienstagnachmittag glaubte ich voller Entsetzen von der Realität eingeholt worden zu sein. Wir hatten Histologie. Der Professor, ein älterer Mann, sehr vital, lebendig und euphorisch versuchte uns die Gewebelehre näher zu bringen. Wie immer stürzte ich mich voller Eifer in meine Notizen. Schon bald merkte ich, dass ich Mühe hatte ihm zu folgen. Je mehr Zeit verstrich, desto grösser erschien mir der Graben zwischen mir und meinem Ziel, mich beruflich zu verwirklichen. Jeder andere Student oder Studentin hätte diesen kleinen Misserfolg achselzuckend als unbedeutendes Erlebnis abgetan. Nicht ich! Für mich stürzte eine Welt zusammen. All meine Hoffnungen und Träume schienen sich in nichts aufzulösen. Was blieb war wieder die altbekannte Furcht vor dem Versagen und dem Scheitern im Leben. Dabei handelte es sich bloss um zwei lächerliche Stunden, die mich überfordert hatten.
Von da an war ich wieder der alte, ängstliche junge Mann, der krampfhaft versuchte normal zu sein. Auch hier versteckte ich mich hinter einer Fassade. Ich kommunizierte mit Kommilitonen, bändelte mit Frauen an, lernte Freunde kennen, aber versäumte es wie immer, mir treu zu bleiben. Ich spielte allen etwas vor. Zumindest schaffte ich es unzählige von Frauen den Hof zu machen. Doch jede einzelne gab mir einen Korb. Fazit, es hatte sich im Grunde nichts, aber auch rein gar nichts in meinem Leben geändert. Ich spielte bloss eine Rolle, die sich stets von Situation zu Situation wandelte.
Statt mich auf das Lernen zu konzentrieren, verarbeitete mein Verstand all die sozialen Reize um mich herum. Ich war damit beschäftigt, mich im Gedanken- und Gefühlsaustausch mit meinen Kommilitonen zu trainieren. Ich machte dabei bestimmt enorm viele Fortschritte. Doch im Studium hinkte ich immer weiter zurück, obwohl ich täglich mehrere Stunden mit Lernen verbrachte. Ich sank immer tiefer in ein Loch der Verzweiflung, Angst und Depression. Gewisse Kurse begann ich zu meiden, was nur dazu führte, dass ich im Stoff noch mehr hinterherhinkte. Einmal musste ich etwas in ein Fach eines Professors legen. Es befand sich in der Nähe des Vorlesungssaals, wo gerade wieder eine Vorlesung stattfand. Ich war in meiner Welt versunken. Ich merkte nicht einmal, dass mich die Studenten bemerkten. Eine Studienkollegin von mir meinte, sie hätte mich zuerst für einen der Assistenten gehalten. Als sie mich dann wieder erkannte, musste sie über meine Dreistigkeit schmunzeln. Ich versäumte nicht nur eine Vorlesung, sondern liess die ganze Welt davon wissen. Mir war das gar nicht bewusst. Ich zuckte nur gleichgültig mit den Achseln
Ich erhielt regelmässig Abfuhren von Frauen, aber trotzdem freundete ich mit einigen von ihnen an. Sie schätzen meine Liebenswürdigkeit, meine Hilfsbereitschaft und meinen kindlichen Charme. Einmal ging ich mit einer Frau und deren Schwester aus. Sie waren peruanischer Abstammung. Wir trafen uns in der Stadt, tranken zuerst etwas und begaben uns dann in eine Diskothek. Ich fühlte mich in der Begleitung zweier Frauen etwas unwohl in meiner Haut. Einerseits ehrte es mich, andererseits überforderte mich die Rolle des Machos, der mit zwei Frauen gleichzeitig ausging. Die eine war meine Studienkollegin. Dass sie eine homosexuelle Neigung hatte, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Da sie nicht mein Typ war, spielte das eh keine Rolle. Sie verhielt sich eher wie ein Mann. Sie tanzte sehr männlich. Ich schätze ihre Intelligenz und Aufgeschlossenheit. Mir gefiel ihre Schwester, eine Krankenschwester, die mich an eine exotische Prinzessin erinnerte. Sie zeigte reges Interesse für die Männer. Das wäre meine Chance, dachte ich insgeheim. Doch sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie schenkte mir überhaupt keine Beachtung. Ich bin mir nicht sicher, ob sie beim Tanzen in ihre eigene Welt versank oder mit ihrem affektierten Gehabe nur die Aufmerksamkeit der anderen auf sich lenken wollte. Sie ging dezent in die Hocke, um sich dann wieder aufzurichten. Dieses Spiel wiederholte sie Zig-Male. Dabei verrenkte sie ihre Gliedmassen auf erotische Weise. Zum Schluss äusserte sie sich darüber, dass es keine richtigen Männer in dieser Disko gegeben hätte.
«Und was bin ich? Ein Androgyne oder was?», schoss es mir durch den Kopf…
Da es als Medizinstudent meine Pflicht war, sich für ein «Häfeli»-Praktikum zu bewerben, meldete ich mich in einem Spital an, wo ich sofort einen freien Platz ergattern konnte. Im Frühjahr neunzehnhundertdreiundneunzig trat ich mein vierwöchiges Praktikum an. Ich hatte den Eindruck, dass ich vom Pflegeteam sehr herzlich aufgenommen wurde. Doch bereits nach wenigen Tagen fühlte ich mich mit den Aufgaben, wie den Tee am Morgen servieren, Kleiderregale auffüllen, Bestellformulare ausfüllen, et cetera, masslos überfordert.
Ich zeigte mich orientierungslos, unselbständig und unbeholfen. Man begann sich über mich aufzuregen, mich sogar vor den Patienten niederzumachen und hinter meinem Rücken zu lästern. Ich fühlte mich wieder einmal deplaziert. Täglich mit schrägen Blicken, Beschimpfungen und Feindlichkeiten konfrontiert zu werden, belasteten mich und drückten auf mein Gemüt. Ich wurde immer apathischer, lethargischer und ungeschickter. Tief in meinem inneren entwickelte sich ein Groll gegen meine Vorgesetzten, weil sie mich ständig demütigten. Statt mich zu wehren, meinem Ärger Luft zu machen, schluckte ich alles herunter. Als ich dann noch wegen einer starken Grippe sechs Tage Zuhause bleiben musste, veränderte sich meine Situation nicht zum Positiven. Im Gegenteil, man teilte mir nach Ablauf der vier Wochen mit, dass mir das Praktikum nicht anerkannt wurde. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestossen. Was sollte ich tun, als es nochmals zu wiederholen? Ich hatte ja noch die Rekrutenschule zu absolvieren. Allein der Gedanke an die bevorstehende Zeit im Militär bereitete mir schlaflose Nächte.
Nebenbei absolvierte ich zusammen mit den anderen Studenten und Studentinnen einen praktischen Kurs in Chemie. Es war einfach schrecklich. Nur dank hilfsbereiter Menschen vermochte ich die Aufgaben zu lösen. Wir hatten irgendwelche chemischen Mischungen zu fabrizieren. Ich verstand nicht einmal ansatzweise, was ich zu tun hatte. Es fanden sich glücklicherweise immer wieder solche, die mich und meinen Studienfreund unterstützten. Der Prüfungstermin rückte erbarmungslos näher und näher. Ich hatte dieses Jahr überhaupt nichts gelernt, so schien es mir. Ich verlor mich in der Welt der medizinischen Ausdrücke, Begriffe und Formeln.
Als ich im Juli neunzehnhundertdreiundneunzig meine miserablen Prüfungsergebnisse in den Händen hielt, glaubte ich meiner Enttäuschung nicht Herr werden zu können. Gleichzeitig erwartete mich der Einrückungstag. In wenigen Tagen hatte ich mich mit all meinem Gepäck in Moudon einzufinden. Nebst meiner Enttäuschung wegen der verpatzten Prüfung hatte ich mit meiner wachsenden Angst vor meiner bevorstehenden Zeit im Militär anzukämpfen. Ich gehörte quasi dem Staat. Ich hatte zu gehorchen und wenn ich nicht parierte, so könne man mich zur Sau machen. Mit dieser Einstellung bereitete ich mich mental auf meine Zeit als Rekrut vor.
Die Realität, der ich mich zu stellen hatte, bedeutete Entbehrung, Verlust, Demut und Angst. Für jemand anders in meinem Alter hätte seine Realität etwas ganz anderes bedeuten können, wie sich verlieben, heiraten, Vaterwerden, Studienabschluss oder eine viel versprechende Anstellung. Ich musste zuerst einmal erwachsen werden. Als ich mir das gewahr wurde, wurde mir noch schlimmer zumute. Angst und Scham wuchsen in mir auf unerträgliche Weise. Dass ich in der Rekrutenschule mit meinen dreiundzwanzig Jahren der Älteste war, verstärkte mein beschämendes Gefühl meiner Unzulänglichkeit. Ich verglich mich mit meinen Altergenossen, die mir alle Meilenweit vorauseilten. Sogar viele meiner Vorgesetzten waren jünger als ich. Sie waren gestandene Männer mit Frau und Kind oder sie hatten sich bereits beruflich etablieren können. Und ich? Was hatte ich anzubieten? Ich lebte noch Zuhause und konnte nichts vorweisen, ausser einem Maturitätszeugnis, mit einer sehr bescheidenen Punktzahl. Ausserdem hatte ich dabei wertvolle Zeit verloren. Während die meisten bereits mit neunzehn maturierten, qualifizierte ich mich für die Zulassung zu einem Studium erst mit zweiundzwanzig Jahren.
Den ersten Tag als Rekrut überstand ich dank meines überhöhten Adrenalinspiegels. Wie Vieh liessen wir uns von einem Posten zum nächsten führen. Wir hatten uns medizinisch untersuchen zu lassen, Material zu fassen und dergleichen. Bereits am zweiten Tag glaubte ich, durchdrehen zu müssen. Voller Panik starrte ich aus dem Fenster.
«Spring heraus! Spring heraus!», flüsterte mir eine Stimme verheissungsvoll zu.
Ich spielte keineswegs mit dem Gedanken mich umzubringen. Im Gegenteil, mein Drang zu leben überwältigte mich auf unerträgliche Weise. Ich wollte fliehen. Flucht schien in diesem Moment für mich die einzige Möglichkeit zu sein, um mich aus meinem Wahnsinn der Angst und Trauer zu befreien. Ich fühlte mich im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Gefangener. Wenn ich heute darüber nachdenke, so komme ich nicht umhin als mir einzugestehen, dass es vielleicht für mich sogar hilfreich gewesen wäre, wenn ich dieses eine Mal einem meiner vielen Impulse, wie diesen hier, nachgegeben hätte, statt wie immer solange zu warten, bis ich ausrastete.
Wie es nicht anders zu erwarten war, kämpfte ich von Anfang an mit denselben Problemen, welche mich bereits seit frühester Kindheit verfolgten. Völlig desorientiert und hilflos brachte ich meine Vorgesetzten in Rage. Ein Leutnant hatte es voll auf mich abgesehen. Mit seinem hageren und blassen Gesicht erinnerte er einem an den Tod höchst persönlich. Er hatte jedoch nichts Majestätisches an sich. Er schrie uns an, demonstrierte uns seine Machtposition. Er gedachte uns im wahrsten Sinne des Wortes zu schleifen. Seine blonden Strähnen und seine stahlblauen aufdringlichen Augen unterstrichen sein hysterisch dominantes Gehabe. Er liess keine Gelegenheit aus, uns anzuschreien und zu verhöhnen. Einmal beobachtete ich ihn, wie er an uns vorbeirauschte. Sein Gang hatte so etwas affektiert Beschwingtes an sich. Meine erste Assoziation war folgende: «Der ist doch schwul!».
Ich gebe zu, dass meine Reaktion nicht gerade von innerer Reife zeugte. Nichtsdestotrotz sollte ich einige Jahre später erfahren, dass er homosexuell war, was ihn in meinen Augen keineswegs unsympathischer erscheinen liess. Ich zeigte schon damals keine Ressentiments gegenüber Menschen, deren Religion, sexuelle Ausrichtung, Kultur, Hautfarbe oder Verhaltensweise im Allgemeinen von der Norm abwich. Meinen aufgeschlossenen Geist hatte ich der Erziehung meiner Mutter zu verdanken.
In den Augen dieses Offiziers stellte ich den absoluten Versager dar. Seinen Bewertungen zufolge, war ich geistig, seelisch und körperlich weit unter dem Durchschnitt. Im Grunde durfte ich ihm deswegen dankbar sein. Dank dieser miserablen Bewertung erhöhte sich meine Chance mich von der Selektion zu drücken. Doch leider konnte ich mich nicht der Tatsache verschliessen, dass ich, der noch offiziell als Medizinstudent galt, als Kandidat für eine Beförderung vorgeschlagen wurde.
Einmal schrie er mich an, weil ich nicht korrekt salutierte. Ich solle meine Hand dabei ausstrecken. Ich schaffte das nicht. Er fragte mich völlig ausser sich vor Wut, ob ich denn die Liegenstütze auch mit gekrümmten Fingern machte. Ich antwortete ihm auf sehr ehrliche und aufbrausende Weise. Dann sagte er etwas, das mich sehr irritierte.
«Rekrut Jascur! Sie regen meine Phantasie an!».
Oh Gott! Welch dreckige und perverse Gedanken wohl in seinem Kopf herumspukten!
Zu meinem Erstaunen schaffte ich es trotzdem über meinen Schatten zu springen. Trotz massiver Anfangsschwierigkeiten baute ich zu ganz vielen Rekruten ein sehr lockeres und kameradschaftliches Verhältnis auf. Wir rauften uns und massen unsere Kräfte im Armdrücken. Ich brachte sie mit meiner Art ständig zum Lachen. Die meisten mochten mich wegen meiner kindlichen, liebenswürdigen und offenen Art. Ausserdem beeindruckte ich sie mit meinen sportlichen Leistungen. Mühelos vermochte ich mich irgendwo hoch zu hangeln, so dass ich bald den Spitznamen, «Die Kampfsau», erhielt. Ich fasste das als Kompliment auf und das zu Recht. Doch tief in meinem Innern wusste ich, dass ich bloss wieder eine Rolle spielte. Das war nicht ich, der vorgab, ein Frauenheld zu sein, sich zum Kasper machte und sogar mit einigen Vorgesetzten aneckte.
Unsere Truppe setzte sich aus den unterschiedlichsten Charakteren zusammen. Ich bin davon überzeugt, dass sich damals bestimmt einige Exoten aus unserer Crew hätten herausfischen lassen, die vom ASS betroffen waren. Einer spielte blind Schach und besiegte seine Gegner mühelos. Aber ansonsten konnte man ihn als Soldat nicht gebrauchen. Wir hatten einen Rekruten mit einem Schlendergang. Ich erlebte ihn als hochintelligent, redegewandt und sehr sportlich. Doch bei praktischen Übungen versagte er kläglich. Mir fielen noch viele andere Typen in der Rekrutenschule auf, die mich an meinen eigenen Defiziten erinnerten. Statt mich mit ihnen verbunden zu fühlen, positionierte ich mich über sie. In meiner Arroganz hielt ich mich für etwas Besseres. Einer tat mir wirklich leid. Man hatte ihn sozusagen zum Kompanietrottel auserkoren. Er war Postmann von Beruf. Zwei lebendige, aber verträumt dreinblickende Augen zierten sein länglich kantiges Gesicht, das an ein Pferd erinnerte. Sein mächtiger Schädel passte zu seiner stämmigen Gestalt.
Er erinnerte mich an die grobschlächtigen Bauern, welche in ihrer Freizeit ihre Körperkraft im berühmten Schweizerkampfsport, dem «Schwingen», zu messen pflegten. Auf den ersten Blick wirkte er auf seine Menschen offen, kontaktfreudig, aufgeweckt und lebensbejahend. Doch hinter seiner rüstigen Fassade verbarg sich ein sensibler, verträumter und verletzlicher Geist. Seine Naivität und kindliche Unschuld animierte viele von uns Rekruten dazu, ihn zu verhöhnen. Zu solch einem Verhalten hatte ich mich niemals hinreissen lassen. Ich verbrachte viel Zeit mit ihm, weil ich ihn mochte. Ich schaffte es jedoch nicht, ihm den gebührenden Respekt entgegenzubringen, den er verdiente. Wenn ich mit ihm alleine war, boten sich für mich unzählige von Gelegenheiten, um ihn hinters Licht zu führen.
Ganz am Anfang hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Ich hatte ihn für einen souveränen, praktisch veranlagten Burschen gehalten, der mit allen Wassern eines Bauern gewaschen war. Allein sein beherztes Auftreten hatte diesen Eindruck vermittelt. Schon sehr bald kristallisierte sich heraus, dass das Gegenteil der Fall war. Er überzeugte mich mit seiner unglaublichen Redegewandtheit, aber ansonsten zeigte er sich ungeschickt, unbeholfen und verletzbar. Keine der Rekruten hatte ihn akzeptiert. Doch immerhin erhielt er eine bedeutend bessere Bewertung als ich, sowohl in geistiger, seelischer, als auch in körperlicher Hinsicht.
Zu einem anderen Rekruten baute ich ein zwiespältiges Verhältnis auf. Ich mochte ihn zwar, aber auch er forderte mich mit seiner Art geradezu dazu heraus, mich über ihn lustig zu machen. Seine gross gewachsene Gestalt, sein arrogantes und besserwisserisches Gehabe und seine Pedanterie vermochten mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein hoffnungslos naiver Träumer war, der nicht einmal realisierte, wenn sich eine Frau nicht für ihn interessierte. Eines Abends, ich hatte das Vergnügen, nach einem viel zu kurzen Wochenende mit ihm alleine zurück zur Kaserne zu reisen. Wir begegneten eine junge Frau, oder besser gesagt, ein Teenagermädchen von knapp sechzehn Jahren. Sie wendete sich Hilfe suchend an uns, weil sie den letzten Zug verpasst hatte. Uns blieb nichts weiter übrig, als ihr beizustehen. Mir fiel auf, dass mein Kompagnon mit ihr zu flirten begann. Sie tauschten die Adressen aus. Gleich am nächsten Tag bat er mir, dass wir zusammen einen romantischen Brief schrieben, der direkt an sie gerichtet war. Ich lachte ihn nur aus, worauf er sich erzürnte.
Einige Wochen später berichtete er mir empört, was für eine unzuverlässige Person sie doch wäre. Sie hielt es nicht einmal für nötig, ihm zurück zu schreiben. Bei einer anderen Gelegenheit beteuerte er mir voller Anmut, dass er sich unsterblich in eine Serviertochter verliebt hätte. Statt ihn auszulachen, ermutigte ich ihn noch dazu am Ball zu bleiben. Eines Tages tischte ich ihm eine Lüge auf. Ich erzählte ihm, dass diese Frau ihn, den grossen stattlichen Mann mit den schönen Locken, vermisste. Daraufhin kniete jener Soldat vor mir nieder und seufzte voller Euphorie:
«Tut mir unendlich Leid, lieber Juraj, dass nicht alle so unwiderstehlich sind wie ich!».
Ich schaffte es gerade noch mir ein Lachen zu verkneifen.
Wir zählten sogar einen Obdachlosen in unserer Mitte, einen Penner aus St. Gallen. Abgesehen von seinem unerträglichen Körpergeruch, legte er all die herausragenden Eigenschaften des perfekten Soldaten an den Tag. Keine der militärischen Aufgaben vermochten ihn zu überfordern. Egal, ob es sich um geistig anspruchsvolle, seelisch enervierende oder körperlich anstrengende Aufgaben handelte, er meisterte sie alle mit Bravour. Im Sport gehörte er zur Spitze. Er galt als einer der besten Schützen in unserer Truppe. Doch sein hageres Gesicht wirkte auf viele beängstigend. Mit seinem verklärten Blick erinnerte er an den Tot. Wenn man ihn erst näher kennen lernte, konnte man sich von seinem Geist, Witz und Charme überzeugen. Noch heute frage ich mich, woher seine Lebenskraft und Begeisterung kam. Es war nicht zu übersehen, dass er sich in der Krise seines Lebens befand. Nach Abbruch des Gymnasiums hatte er immer mehr den inneren Halt verloren, bis er auf der Strasse landete. Noch heute sehe ich sein Gesicht vor mir. Seine nach hinten zusammengebundenen Haare waren sein Markenzeichen.
In der Anfangsphase meiner Zeit als Rekrut hatte ich besonders stark gelitten. Ich hatte bereits weiter oben andeutet, dass ein Offizier mir gedroht hatte. Denn in seinen Worten verbarg sich die dunkle Kraft seiner sadistischen Phantasien. Nachdem ich diese Krisenzeit überwunden hatte, versuchte ich meine noch verbleibende Zeit als Rekrut zu überstehen. Dabei kippte meine Niedergeschlagenheit in Euphorie um, was dazu führte, dass ich erneut vor der Realität flüchtete. Gefühle von Melancholie und Euphorie vermischten sich zu einem intensiven heftigen Sehnen nach Freiheit. Noch nie empfand ich die Schweizerlandschaften als so schön und berauschend wie in dieser Zeit. Wenn wir marschierten, wanderten meine Augen in alle Richtungen, um die romantischen Gefühle in mir aufleben zu lassen. Voller Sehnsucht sog ich all die Eindrücke der Natur in mich auf. Einmal trafen sich meine Blicke mit einer dunkelhäutigen Putzfrau. Sie starrte mich an. Ich glaubte, dass sich meine Sehnsucht in ihren Augen wieder spiegelte. Ich bildete mir ein, dass wir Seelenverwandte wären.
Eines Abends, ich hatte frei, schlenderte ich durch das winzige Kaff, das sich Moudon nannte. Ich traf auf einer Horde bekiffter Soldaten. Ich erkannte sie sofort wieder. Ich begrüsste sie höflich und sie luden mich ein, an ihrem Rausch teilzuhaben.
«E huere Fickerei!». Erst im Militär lernte ich die wahre Bedeutung des Wortes «Ficken» kennen. Selbst ich konnte nicht umhin, als mich «gefickt» zu fühlen. Das hatte nicht mit Sex oder Erotik zu tun. Kameradschaftlich wie ich nun mal war, liess ich mich dazu überreden, einen Zug vom Joint zu probieren. Ich hustete und lehnte es ab, es darauf ankommen zu lassen. Ich hatte nicht vor, mich jemals zuzudröhnen. Sie akzeptierten das und liessen mich weiterziehen.
Ich setzte mir ein neues Ziel, das keine sachlichen Grundlagen aufwies. Wieder liess ich mich von meiner Impulsivität und meiner romantischen Ader steuern. Ich entschied mich für ein Studium der Psychologie in Zürich und verabschiedete mich nun endgültig von der Medizin. Meine Vorfreude wuchs, je näher das Ende der Rekrutenzeit und der Beginn meines Psychologiestudiums, Ende Oktober neunzehnhundertdreiundneunzig, rückten.
Während meiner vier Monate in der Rekrutenschule schien mein Selbstbewusstsein ins Grenzenlose zu steigen. Das intensive und raue Zusammenleben mit hundert anderen männlichen Rekruten färbte auf mich ab. Ich schob den unangenehmen Gedanken, dass ich noch nie mit einer Frau Geschlechtsverkehr hatte, beiseite, und bereitete mich mental auf meine Freiheit vor. Ich fühlte mich wie ein Strafgefangener, der von Tag zu Tag euphorischer wurde, je näher der Entlassungstermin rückte. Ich schmiedete waghalsige Pläne für meine Zukunft. Ich stellte mir sogar vor, wie ich nach Israel auswandern würde, um im Kiebitz zu leben. Mein Hunger nach Abendteuer glich dem eines leidenschaftlichen Helden auf der Suche nach seinem Glück. Meine Rekrutenfreunde, welche mich von Anfang an akzeptiert hatten, verstärkten in mir das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Ich wartete nun voller Eifer auf das Ende meiner Dienstzeit, um mich dann auf mein Vorhaben zu stürzen, die Welt zu erobern. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie einer zu mir meinte:
«So, wie ich dich einschätze, werden die Mädchen sich auf dich stürzen, wenn du entlassen wirst!».
Ich antwortete ihm mit voller Inbrunst:
«Ich werde eine Frau nach der anderen erobern!».
Mir war bewusst, dass ich ihm ein völlig falsches Bild von mir präsentierte. Doch insgeheim wollte ich daran glauben, dass ich nun ein anderer geworden war. In der Tat schien ich mich um hundertachtzig Grad geändert zu haben.
Ich hatte auch eine andere Seite. Je sicherer ich mich fühlte, desto häufiger meldete sich in mir der Schalk. Ich suchte mir meine Opfer spontan aus. Es ergab sich zufällig, dass ich gewisse Menschen bis zur Weissglut ärgerte. Etwas mussten sie in mir veranlasst haben. Diese Menschen, von denen ich spreche, verband, eine gewisse Arroganz, die schon an Borniertheit grenzte. Ein junger Korporal, gerade mal neunzehnjährig, der wegen seines Jahrgangs von neunzehnhundertvierundsiebzig von vielen nur «Speck vierundsiebzig» genannt wurde, belustigte mich aufgrund seines affektierten Gehabes. Er markierte den starken Mann und wollte uns dominieren. Obwohl er rangmäßig über uns stand, nahmen wir ihn nicht ernst. Er war leicht untersetzt, hatte blonde Haare, die zu einer «Igel»-Frisur nach oben gekämmt waren und sein rundes Mondgesicht glich dem eines unreifen Kindes. Ich glaube nicht, dass er sich schon rasierte. Einmal schlenderte er wie ein Gockel durch die Kaserne und fixierte einige von uns Rekruten mit seinen blauen Augen. Mit Handzeichen machte er einigen darauf aufmerksam, dass ihre Tenues nicht korrekt waren. Ich fand diese Szenerie so lächerlich, dass ich nicht umhin konnte, als ihn als mein ganz persönliches Opfer zu erwählen.
Wenn er die Waffen einzog, fragte ich ihn mit gespielter Unschuld, ob ich meine Waffe haben könnte. Wenn er das verneinte, spielte ich den Wütenden und bestand darauf, dass er mir die Waffe auszuhändigen hätte. Er platzte fast vor Wut und merkte nicht einmal, dass ich ihn hochnahm.
Einmal äusserte er sich mir gegenüber in einem kameradschaftlichen Ton über ein paar junge Teenagermädchen, die vorbeischlenderten. Er meinte, dass sie nicht schlecht aussehen würden. Ich lachte ihn aus und bemerkte böse, dass das Kinder wären.
Ein anderer Korporal kontrollierte unsere Socken. Auch ihn konnte ich nicht respektieren, weil er sich uns gegenüber unmöglich verhielt. Er schrie uns immer an, weil er glaubte, dass sich damit seine Chance erhöhen würde, zum Leutnant befördert zu werden. Eines Abends kontrollierte er unsere Socken, bevor wir in den Ausgang gehen durften. Obwohl ich die richtigen Socken anhatte, konnte ich es mir nicht verkneifen, mein Gesicht angstvoll zu verzerren. Er dachte, mich in der Hand zu haben und näherte sich mir energisch. Er befahl mir mit dominanter Stimme, mein Hosenbein hochzuheben.
«Mein Gott! Weisst du denn nicht, dass graue Socken erlaubt sind?», schrie er ausser sich vor Wut.
Ich schmunzelte.
Ach fast hätte ich es vergessen! Ich kam nur knapp von einer Beförderung davon. Als Medizinstudent kam man praktisch nicht darum herum als befördert zu werden. Da hätte auch die schlechte Bewertung meines Leutnants nicht geholfen. Obwohl ich mich bereits für das Psychologiestudium entschieden hatte, galt ich offiziell noch als Medizinstudent und angehender Arzt, von dem erwartet wurde, dass er einen höheren Rang im Militär einnahm. Andernfalls wäre er im Militär sozial abgeschrieben. Davon ging ich jedenfalls aus. Es folgte nun eine Woche des angstvollen Zitterns. Ich benachrichtigte meine Mutter von meiner unangenehmen Situation und bat sie, mich vom Medizinstudium exmatrikulieren zu lassen. Ich konnte das ja nicht. Denn ich war im Militär. Ich wartete also nun voller Angst und Ungeduld auf diesen Fetzen Papier, der bestätigte, dass ich kein Medizinstudent war und somit nicht mehr für eine Beförderung in Frage kam. Quasi in letzter Minute erhielt ich per Post meinen Passierschein in die Freiheit, den ich dann meinen Vorgesetzten vorweisen konnte.
In unserem letzten Tag mussten wir noch die Kaserne putzen, uns unzähligen von Kontrollprozeduren und Schikanen über uns ergehen lassen. Sie liessen uns Stundenlang schmoren und schürten unsere Angst mit wagen Andeutungen, dass wir vielleicht nicht rechtzeitig nach Hause gehen könnten, wenn die Buchhaltung nicht stimmte. Das hätte dann zur Folge, dass wir uns an einem anderen Ort hätten einquartieren und dort übernachten müssen. Mit hasserfülltem Blick starrte ich nach oben in das mit Licht erfüllte Büro, wo sich unsere Obrigkeit befand und über das Eintreffen unserer lang ersehnten Freiheit entscheiden sollte. Es hatte bereits zu dunklen begonnen. «Verdammt nochmals! Wann entlässt ihr uns endlich! Wir wollen nach Hause! Rechtzeitig ins Wochenende!»…
Den letzten Zug erreichen wir knapp. Wir rannten uns fast zu Tode. Als ich dann mit meinen engsten Freunden endlich im Zug sass, riss ich sie mit meinen Sprüchen in meinen Bann. Aus mir sprudelte ein Witz nach dem anderen heraus. Ich brachte sie ständig zum Lachen. Das Gefühl akzeptiert zu werden, ja mehr noch, verehrt zu werden, berauschte mich. Ich fühlte mich in meiner Männlichkeit mehr als nur bestätigt. Ich spielte meine Rolle perfekt. Zuhause bei meinen Eltern brachte ich voller Euphorie drei meiner jüngeren Brüder, elf, zehn und neunjährig, bei, wie man die Waffe auseinander nahm und wieder zusammenbaute. Sie stellten sich dabei sehr geschickt an.
Voll gepumpt mit Adrenalin und einem Überschuss an Eigenproduktion von Glückshormonen trat ich meinen ersten Studientag in Zürich an. Ich stieg im Bahnhof SBB in Basel in den Zug mit dem direkten Ziel nach Zürich. Bislang hatte ich noch keinen Fuss in diese Stadt gesetzt. Mir fehlte also jegliche Orientierung. Da jedoch der Freudenrausch bei mir noch immer wirkte, erschien mir kein Hindernis zu gross. Ich fühlte mich jeder Herausforderung gewachsen. Wie ein Eroberer überquerte ich Strassen, Gassen und Gehsteige und fragte unzählige von Menschen nach dem Weg, bis ich endlich die Universität von Zürich erreichte. In meiner Jeansjacke fühlte ich mich wild, jung und eroberungsgeil. Wie es der Zufall wollte, lief mir eine wunderhübsche Frau, ungarischer Abstammung über den Weg. Zu meiner freudigen Überraschung hatte sie sich ebenfalls für das Fach Psychologie eingeschrieben. Gemeinsam schlenderten wir dann zu unserer ersten Vorlesung. In mir schwang noch immer das heldenhafte Gefühl des Rekruten. Dass ich jedoch bereits dabei war, mich hinter meiner Fassade zu verstecken, war mir nicht wirklich bewusst. Es fehlte noch der letzte Schritt, um mit ihr etwas anzufangen. Ich hatte nichts zu befürchten. Ich hatte sie ja erst kennen gelernt. Mein Ziel diese Frau zu erobern schien zum Greifen nach. Mit jeder Faser meines Körpers lechzte ich nach einer sexuellen Begegnung mit einem weiblichen Wesen.
Zu meinem Glück fehlte im Grunde nicht viel. Ich sah gut aus, war intelligent und wie sich herausgestellt hatte, vermochte ich sogar meine Mitmenschen zu unterhalten. Als Soldat glaubte ich mit allen Merkmalen eines Eroberers und mit allen Wassern eines erfolgreichen «Frauenflüsterers» ausgestattet zu sein. Meine Erinnerungen an meine Zeit als Rekrut, der sich im Kampf mit anderen Soldaten gemessen, mit ihnen derbe Witze gemacht hatte und in das wilde Gelächter der Mannschaft eingestimmt hatte, bestärkten mein falsches Selbstbild. Ich erwies mich nach wie vor als derselbe Mensch, wie vor meiner Rekrutenzeit. Daran konnte auch mein erhöhter Serotoninspiegel nichts ändern, der sich wie eine Flutwelle über meine Neuronen ergoss und noch bis zum nächsten Tag andauern sollte. An meine erste Vorlesung vermag mich kaum noch zu erinnern. Selbstverständlich vermochte mich nichts daran zu hindern, als meine Beziehung zu dieser bildhübschen Frau mit ihren weiblichen Kurven aufrechtzuerhalten. Da wir am nächsten Tag wieder gemeinsam Vorlesung hatten, waren wir uns beide einig, dass wir uns wieder sehen würden.
Ich schien ihr tatsächlich zu gefallen. Warum auch nicht? Davon überzeugt, dass ich mich in unserer ersten Begegnung souverän verhalten hatte und eigentlich nicht viel falsch machen konnte, um sie noch stärker an mich zu binden, trat ich den zweiten Tag mit derselben heroischen Haltung an, wie am ersten Tag. Etwas war anders. Ich hatte nun meine ersten sozialen Bindungen geknüpft. Ich war also nicht mehr ganz so frei und ungebunden. Doch der innere Rausch der Euphorie liess mich noch immer taumeln. Wir begrüssten uns recht herzlich. Dass ich mich bereits mitten in eines meiner vielen Rollen gefangen fühlte, hatte ich nicht realisiert. Statt authentisch zu sein, forcierte ich den Verlauf unserer Beziehung. Krampfhaft bemüht meiner Rolle als Macho gerecht zu werden, redete ich auf sie ein. Ich war jedoch sensibel genug, um Feinheiten in ihrem Verhalten wahrzunehmen, die ich jedoch nicht zu deuten wusste. Sie verunsicherten mich sehr. Doch ich ignorierte es. Zu meinem Bedauern gesellte sich ein Student zu uns, der mehr an Lebenserfahrung zu bieten hatte, als ich. Er studierte ein anderes Fach. Er war sehr gross gewachsen, gut aussehend, sportlich und an Intelligenz mangelte es ihm ebenfalls nicht. Mit seinem Witz und Charme vermochte er sie mühelos für sich zu gewinnen.
Meine Erziehung gebot es mir, höflich zu bleiben. Ich zeigte mich ihm gegenüber sogar sehr offen und aufgeschlossen. Immer noch krampfhaft bemüht meine künstliche Fassade, die ich mir in meinem neuen Leben als Psychologiestudenten und ehemaliger Kampfsau zurechtgelegt hatte, aufrechtzuerhalten, liess ich keine Gelegenheit aus, auf mich aufmerksam zu machen. Dass ich dabei immer mehr von meiner Authentizität verlor, hatte ich noch immer nicht realisiert. Mit meiner für diese Jahreszeit viel zu dünnen Jeansjacke hatte ich mich in die Rolle des machohaften Einzelgängers hineingesteigert, der sich in jeder Situation, einschliesslich der sozialen Interaktionen mit anderen Menschen, als souverän erwies. Als der junge gut aussehende Student vorschlug, dass wir gemeinsam essen gehen könnten, hatte ich noch nichts dagegen einzuwenden. Ich war noch weit davon entfernt mich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen. Denn schliesslich war ich derjenige, der sie zuerst angesprochen hatte. Ausserdem verband uns zwei etwas sehr wichtiges, nämlich das gemeinsame Studium.
Gemeinsam suchten wir eine Kantine aus. Ich hatte mein Sandwich dabei. Denn ich konnte mir es nicht leisten, sich dort etwas zu bestellen. Ich musste sparen. Ich dachte mir nichts dabei, als die anderen beim Kellner ihre Bestellung durchgaben und ich mein Sandwich auspackte. Der Kellner, dem das nicht entgangen war, machte mich höflich, aber distanziert, darauf aufmerksam, dass ich mein Sandwich wieder einzupacken hätte. Das hier wäre ein Restaurant, wo man sich sein Essen nicht mitnehmen konnte. Zum Erstaunen meiner neuen Freundin und unseres attraktiven männlichen Kompagnon reagierte ich sehr aufbrausend. Ich verhielt mich auf unangemessene Weise impulsiv und viel zu emotional. Das hatte wohl noch immer mit meinem Euphorierausch zu tun, der mir das Gefühl vermittelte unbesiegbar zu sein. Ich fühlte mich im Recht! Basta! Voller Zorn versuchte ich zu argumentieren. Denn ich war davon überzeugt, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches Restaurant handelte. In der Tat glich es vielmehr einem Studentenkeller. Die ganze Atmosphäre erschien mir locker und zwanglos zu sein.
Doch ich hatte mich getäuscht. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Sandwich einzupacken. Andernfalls hätte ich das Restaurant verlassen müssen. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich gedachte, die Gesellschaft mit dieser jungen Frau auszukosten. Aber wenn ich ehrlich bin, mit meinem aufbrausenden Verhalten vermittelte ich ihr nicht gerade das beste Bild von mir. Sie hatte jeden Grund dazu, mich als streitsüchtig, stur, unflexibel und geizig einzuschätzen. Statt mich unauffällig beim Kellner zu entschuldigen, begann ich mich aufzuregen. Ein wahrer Held hätte sich bestimmt ganz anders verhalten. Meine Stimmung änderte sich abrupt. Meine Euphorie war verschwunden. Ich liess Zuhause keine Gelegenheit aus, meiner Mutter von meinen Erlebnissen, insbesondere jener viel versprechenden Begegnung mit dieser reizvollen Ungarin, zu erzählen. Doch ihre Ratschläge, die Sache ruhiger angehen zu lassen und mein sexuelles Verlangen besser zu verstecken, schoss ich in den Wind.
Im Grunde war mir schon längstens bewusst, dass ich es mir bei ihr, einem weiteren weiblichen Wesen, verscherzt hatte. Wieder einmal! Ich war ja kein Dummkopf. Was hatte ich schon zu bieten, als einem unsicheren Mann mit hübschem Gesicht, der es nicht einmal schaffte sich selbst treu zu bleiben. Doch ich war auch ein Romantiker. Das bin ich noch heute. Ich hörte nicht auf zu hoffen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Nähe zu suchen, ich nutzte sie. Da mir jedoch nicht entging, dass sich ihre anfängliche Begeisterung für mich in nüchterne Distanz umwandelte, wuchs meine innere Unruhe und Unzufriedenheit. In mir keimte ein ganz anderes Gefühl auf. Es handelte sich um das Bedürfnis mich von ihr zu befreien. Ihre Gegenwart wurde mir unangenehm, weil sie mich immerzu auf beschämende Weise daran erinnerte, was für ein Versager ich doch wäre. Wäre ihr Anblick für mich nicht so betörend gewesen, hätte ich mich leichter von ihr lösen können.
Ich habe den Moment, als ich mich am Ende einer Vorlesung von ihr verabschiedete, nicht aus meinem Gedächtnis streichen können. Diese unangenehme Szene wird wohl für ewig in meinen neuronalen Schaltkreisen schwingen. Ich legte meine rechte Hand auf ihrer Schulter und redete affektiert auf sie ein. Doch ihrem Gesichtsausdruck nach zu beurteilen, erzielte ich bei ihr nicht den erwünschten Effekt, den ich mir erhofft hatte. Sie sagte nichts, lächelte nicht, sondern blieb höflich und verabschiedete sich ebenfalls von mir, um uns am nächsten Tag, am darauf folgenden Tag und am darauf folgenden Tag, und so weiter und so fort wieder zu sehen. Sie verzog nicht einmal ihre Miene. Doch ich glaubte, in ihr Inneres geblickt zu haben, das sich mir wie ein trauriges und beschämendes Spiegelbild meiner selbst offenbart hatte.
Die Realität hatte mich wieder eingeholt. Langsam aber sicher legte ich meine erst frisch angezogene Schale des euphorischen Helden und Abendteuerer wieder ab, um in meine alten Verhaltensmuster zurückzufallen.
Im Zug traf ich ganz unvermutet auf ein paar Studentinnen, die ich noch aus dem Medizinstudium in Basel gekannt hatte. Doch eine Frau unter ihnen sah ich zum ersten Mal. Sie hatte erst begonnen Medizin zu studieren. Sie war bildhübsch und brachte mein Blut erneut in Wallungen. Wieder fand ich den Mut sie mit meiner oberflächlichen Fassade zu blenden. Wir tauschten unsere Nummern aus und verabredeten uns im McDonald am Barfüsserplatz in Basel. Ich war Feuer und Flamme. In mir sollte ein letztes Mal der wilde Abendteurer, die Kampfsau, aufkeimen. Ich betrachtete unser Treffen als ein richtiges Date. Mein inneres Gefühl der Euphorie war stark genug, um meine Ängste und Schamgefühle aus meiner Gegenwart zu verbannen. Ich begrüsste sie und gemeinsam suchten wir uns einen Platz aus. Der Moment war einfach berauschend. Ich glaube, dass ich vielleicht endlich so weit gewesen wäre, mich innerlich zu befreien. Ich bemerkte ein junges Mädchen, vielleicht dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre. Sie erinnerte mich an all meine verpassten Chancen, die ich auf meine eigenen Schwächen zurückführte. Doch in diesem Augenblick bestärkte sie mich in meinem Vorhaben, es dieses Mal richtig zu machen.
In wenigen Augenblicken erlebte ich eine herbe Enttäuschung, die dieses Mal nicht auf mein Defizit in der sozialen Interaktion zurückzuführen war. Wir waren gerade dabei in voller Euphorie unsere Gedanken und Gefühle auszutauschen, als sie mir so ganz nebenbei mitteilte, dass sie sich in einer festen Beziehung befände. Ich hatte ihr sogar aufrichtig zu verstehen gegeben, dass ich mich für sie interessierte. Meine Enttäuschung war gross. Der Form halber sprachen wir noch eine Weile und dann verabschiedeten wir uns voneinander. Ich hatte sie danach niemals wieder gesehen, geschweige mich mit ihr wieder verabredet. Schneller als erwartet schlüpfte ich langsam aber sicher wieder in meine alte Rolle des Überbesorgten, des ständig in Angst vor weiterem Versagen Lebenden und des Zurückgezogenen, der sich nur in seinem trauten Heim seiner Eltern sicher fühlte.