Juraj Jascur

31. Kapitel Iris

Iris bürstet sich gerade ihre wilde Mähne, um sie dann streng zusammen zu binden. Sie ist sechsundvierzig, immer noch alleinstehend und läuft Gefahr, dass ihre Karriere den Bach runtergestürzt wird.

Sie hat das Bild jenes kleinen, aber nicht unattraktiven Elsässer vor Augen. Wieder einmal gab ihr ein männliches Wesen das Gefühl minderwertig und hässlich zu sein. Jean-Claude zerstörte ihr Lebenswerk, nämlich das auf einer Fassade aufgebauten Bild von sich selbst.

Da sie jahrelang Zeugin war, wie ihr Vater ihre Mutter wie Dreck behandelte, bemühte sie sich von frühester Jugend, für den Rest der Welt unantastbar zu sein. Jeder, der es wagte sich ihr in den Weg zu stellen, wurde von ihr einfach überrannt. Schon in der Schule gehörte sie zur Spitze. Sowohl im Sport, als auch in den intellektuellen Gebieten übertrumpfte sie ihre Altersgenossen. Sie war schon damals wegen ihrer Schönheit in der Schule eine kleine Berühmtheit. Kein Junge wagte es, sich ihr zu nähern. Sie hatte schon die Abfuhren, welche sie ihren Verehrern erteilt hatte, aufgehört zu zählen. Mit achtzehn absolvierte sie die Rekrutenschule, arbeitete sich hoch bis zur Kommandantin und nahm dann das Medizinstudium in Angriff.

Bereits mit fünfunddreissig war sie Chefärztin einer psychiatrischen Klinik. Nebenbei studierte sie noch Betriebsökonomie, um sich ihren Traum zu verwirklichen, über ein ganzes Heim zu regieren.

Ihre Lebensstrategie funktionierte, zumindest bis zu dem Tag, wo der hübsche Mann, Jean-Claude Diderot ihr Kartenhaus zusammenbrechen liess. Seither vergeht keinen Moment, wo sie sich nicht selbst ständig hinterfragt. Von Selbstzweifeln verfolgt, setzt sie alles Erdenkliche in die Wege, um mich von Grund auf zu untersuchen.

Herr Diderot gibt Frau Guggenbühler die Gelegenheit, ihren Kopf noch rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen. Selbstverständlich gewährt man mir wieder freien Zugang zu allen technischen Mitteln und Büchern, um mich geistig frei entfalten zu können. Als einzigen von allen Insassen gewährt man mir eine Sonderbehandlung. Sogar der Vermerk, dass ich angeblich Michelle sexuell belästigt haben sollte, wird aus meinen Akten gestrichen. Diderot sorgt dafür, dass alles zu meinem Besten geschieht.

Es folgen unzählige Tests, um meine geistige Kapazität zu testen, um Defizite in meinem Handeln, Fühlen oder Denken genauer auszuloten.

Iris fiel es schon immer extrem schwer, ihre eigenen Fehler zuzugeben. Auch in meinem Fall sträubte sie sich innerlich gegen den Gedanken, dass sie sich in mir so getäuscht haben konnte. Nach aussen hin zeigte sie sich als kooperativ Herrn Diderot gegenüber. Sie allein war es, die das gesamte Personal darauf hingewiesen hatte, dass mir eine Sonderbehandlung hatte zu teilwerden lassen. Die aktuellsten Testergebnisse standen in einem krassen Widerspruch zu meinen schon längst überholten Personalakten.

Meine intellektuellen Fähigkeiten sprengten bei weitem die auf einer medizinisch-klinischen Auswertung beruhende Statistik. Ich stach sogar intelligenzmässig aus der Masse heraus – im positiven Sinne natürlich!

Doch meine allgemeine Lebenseinstellung liess bei mir auf auffallend starke Defizite im emotionalen, sozialen und praxisbezogenen Bereich schliessen. Unzählige Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialtherapeuten waren der Meinung, dass ich emotional entwicklungsmässig auf der Stufe eines Kleinkindes war.

Als mich Frau Guggenbühler einmal zu sich holen liess, fühlte ich mich sehr unwohl. In ihrer Gegenwart hatte ich mich immer schon unsicher gefühlt. Sie hatte eine Art, mit den Menschen umzugehen, die mich aufs höchste irritierte.

Sowohl das Personal, als auch die Insassen erlebten sie gleichermassen als dominant, arrogant und äusserst aufdringlich. Sie schaffte es innert weniger Minuten, allein durch ihre Fragen jemanden in einen Zustand des sich total Entblösstfühlens zu versetzen.

Wieder erwartete ich, dass sie mit ihren Röntgenaugen eine Schwachstelle im System fände, genauso wie damals, als sie bei uns im Heim «aufgeräumt» hatte. Sie blickte mich mit ihren stahlblauen Augen an. Sie musterte mich, so dass ich mich wieder wie ein Stück Fleisch zu fühlen begann, dass sie professionell in Augenschein nahm. Gefangen in meiner Rolle des Untergebenen und korrekten Menschen wagte ich nicht, meinen Blick von ihr abzuwenden. Auf diese Weise zollte ich ihr den Respekt, den sie als Mensch meiner Meinung nach verdiente.

Innerlich kämpfte ich jedoch gegen das Gefühl meiner inneren Zerrissenheit an. Einerseits fühlte ich mich von ihr abgestossen. Jede Faser meines Körpers wehrte sich dagegen, jede weitere Sekunde ihre Gegenwart ertragen zu müssen.

Andererseits entging mir nicht, dass ihre weiblichen Reize nicht zu ignorieren waren. Ihr enger Pullover, liess einen tiefen Einblick in ihrem immer noch jugendlich wirkenden und üppigen Dekolleté.

Mit ihrer hellen und klaren Stimme begann sie, auf mich einzureden. Allein ihr Klang liess mich innerlich erschaudern. Dabei schien ich ein Aufflackern in ihren Augen wahrzunehmen. Es war so schwach und von so kurzer Dauer, dass ich es für eine Einbildung hielt. Da! Erneut war wieder dieses Aufflackern in ihren Augen. Ich hatte Mühe mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Ihre Worte, ihre Sätze und ihre Blicke schüchterten mich ein, liessen mich innerlich vor Angst verkrampfen. Doch ihre Körpersprache passte nicht dazu. Immer wieder fuhr sie mit ihrer linken Hand über ihren Bauch.

«Stehen Sie einmal auf, Herr Stanislav!»

Endlich schien ich wieder die Kontrolle über mich gefunden zu haben. Ich erwachte aus meinem Zustand der inneren Starre und stand ruckartig auf. Das war ihr erster Satz, den ich verstanden hatte, seit ich hier in ihrem Büro wenige Minuten zuvor erschienen war.

«Ich möchte mal sehen, wie Sie gehen!»

Ich tat wie mir befohlen. Schliesslich war sie ja Arzt und wollte nur das Beste von mir. Sie siezte mich und nannte mich Herr Stanislav. Ich war verwirrt, schockiert, zutiefst verängstigt, erregt und geschmeichelt zugleich. Ihre Augen leuchteten, als sie mich von Kopf bis Fuss zu mustern begann. Sie verfolgte jede meiner Bewegungen. Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch, das von einem Raubtier inspiziert wurde.

Das Büro war recht gross und fast leer. Bis auf ihr Pult, einem Bett und einem Schrank war hier nichts zu sehen. Mich graute allein die Vorstellung, diese lange Strecke unter dem wachsamen und animalischen Blick von Frau Prof. Dr. Iris Guggenbühler gehen zu müssen.

Mein Gang verkrampfte sich unweigerlich. Mein stattlicher, athletischer und muskulöser Körper, der über siebzig Kilogramm wog, nahm auf groteske Weise eine leicht gekrümmte Haltung an, so dass sich mein ganzes Erscheinungsbild verzerrte. Ich war fest davon überzeugt, dass nicht einmal mein strammer und muskulöser Hintern von meinen gekrümmten Beinen, gebeugten Rücken und meinem humpelnden Gang ablenken konnte.

Doch mir war, als ob ein Leuchten von ihren Augen ausging. Dieses aufdringliche Leuchten schien einzig allein auf mein Hinterteil gerichtet zu sein. Ich marschierte jedoch unbeirrt weiter und wartete auf weitere Anweisungen. Als ich am anderen Ende des Raumes angekommen war, vernahm ich ihre Stimme.

«Sie verkrampfen sich ja völlig! Das brauchen Sie nicht! Ich hatte genügend Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, dass Sie körperlich völlig in Ordnung sind!»

Ihre Stimme klang auf erschreckende Weise freundschaftlich. Ich glaubte sogar noch einen Hauch Zärtlichkeit im Klang ihrer Stimme zu vernehmen. Sie stand auf und näherte sich mir. Dabei wiegte sie leicht ihre üppigen Hüften. Sie stand dicht vor mir. Ich konnte ihren Atem spüren. Ihr Parfüm roch fein und süss und gar nicht aufdringlich. Plötzlich stand sie hinter und legte ganz sanft ihre Hände auf meine Schulter. Mit leiser Stimme begann sie auf mich einzureden. Es glich eher einem Flüstern.

«Lockern Sie sich … schschschschsch … entspannen Sie sich …», hallte es immer noch in meinem Kopf.

Ich merkte gar nicht, dass ich schon am Gehen war. Ich drehte mich erschrocken um und blickte in ihr Gesicht, das strahlte.

«Bravo! Sie können ja gehen – und wie gut Sie das machen!»

  
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