Juraj Jascur

Einleitung

Es ist das Jahr 6034. Ein leidvolles Geseufze erfüllt den Raum, dessen Klang ihm nur allzu gut vertraut ist. Es entstammt seiner eigenen armen kläglichen Kehle, die vom Jammern ganz erschöpft ist. Der Boden dieses Zimmers misst etwa 20 m2. Dieses Zimmer befindet sich in einem Sicherheitstrakt, das seit Jahren vernachlässigt wird. Es ist das einzige Zimmer in diesem Komplex. Niemand ist hier ausser ihm. Personal gibt es keine. Er braucht keine Nahrung. Er holt sich die Energie aus der Luft, um zu leben.

Verzweifelte Augen suchten einmal nach einem Hinweis, um dieser Hölle zu entkommen. Doch nun schauen die traurigen Augen nur noch in die Leere. Wohin der Blick auch fällt, es scheint keinen Zentimeter dieser metallenen Mauern zu geben, die nicht schon gesehen wurden. Dafür gibt es immer wieder neue Tierchen zu betrachten, die durch die winzigen Öffnungen eindringen, um ungeschoren wieder nach draussen zu gelangen. Es sind Insekten aller Art, welche einmal bei ihm für grosses Aufsehen und Ekel gesorgt haben.

(…es sind nicht diese sichtbaren Mauern allein, die mich am gehen hindern….oh, nein! Es ist diese unsichtbare künstliche Kraft, die alles um mich herum erfüllt. Jede nicht organische Faser ist von dieser teuflischen Macht besessen. Ich bin dazu verdammt, das zu akzeptieren. Ich machte mich riesengross, dann wieder ganz klein – egal, welche Versuche ich anstellte, ich blieb ein Gefangener. Ich war geistig blockiert…).

So zu leben ist schrecklich. Vor allem für jemand, der so freiheitsliebend ist wie er. Dieser Drang ist eigentlich bei allen seiner Art ähnlich stark ausgeprägt. Was ihm noch bleibt sind die Erinnerungen an schöne Zeiten. Immer fällt ihm dabei der Name Eduard ein.

Eduard verdankte ihm sein Leben, doch Muschu verdankt Eduard vielmehr, nämlich das Gefühl von Verbundenheit. Dieses Gefühl vermisst er schon lange und nicht nur hier in der Zelle, sondern schon lange Zeit zuvor. Er lebte frei wie ein Vogel, ohne Sorgen, ohne Verpflichtungen, aber er war einsam. Doch sein Ego nahm das in Kauf, weil er um keinen Preis auf seine Freiheit verzichten wollte.

Jetzt ist er gefangen, isoliert und unendlich traurig. Gemäss den alten Philosophen könnte er sich trotzdem frei fühlen, doch die Zeit macht mit der Zeit jeden Geist mürbe. Einst liebte er die Menschen mit ihren Eigenheiten. Obwohl er sie in vieler Hinsicht für engstirnig und verbohrt hielt, bewunderte er ihre Verbundenheit untereinander. Allein schon das Wort Ehe löste in ihm damals Ehrfurcht aus. Sich mit einem Wesen zu verbinden und ihm ewige Treue leisten – nein – das wäre für ihn unmöglich gewesen.

Er ist sich nicht sicher, ob sich seine Einstellung darüber geändert hat. Trotz seines grossen Geistes sind solche Fragen für ihn nicht leicht zu beantworten. Eduard existiert schon lange nicht mehr, doch in seinem Geist wird er stets weiterleben…

In der Entwicklung stehen geblieben

Eduard ist jetzt 16 Jahre alt und froh, dass seine Familie noch besteht. Er könnte es nicht ertragen, aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden. Er weiss nicht wie viele Male in der Vergangenheit, er seinen Eltern fast weggenommen wurde. Viele Familien werden auf diese Weise auseinander gerissen, wo der Staat das Gefühl hat, der Entwicklung Willen des Kindes einschreiten zu müssen. Er hat sich in den letzten Jahren gut entwickelt. Er spricht normal und man kann mit ihm problemlos kommunizieren.

Trotzdem weist Eduard gewisse Verhaltensauffälligkeiten auf. Er beteiligt sich nur ganz selten an sozialen Veranstaltungen. Und wenn er dabei ist, dann ist er auffallend passiv. Es ist die Angst sich bloss zu stellen, die ihn daran hindert, sich anderen gegenüber zu öffnen. Hin und wieder jedoch ist er zu offen, teilt sich bedingungslos mit und geht mit einer erschreckenden Distanzlosigkeit auf andere Menschen zu. Er ist dann wie ein Kind, das nach Anerkennung lechzt. Leider nützen das die meisten schamlos aus und geben ihm das Gefühl minderwertig zu sein.

Die Mädchen in seinem Alter scheinen ihn nur mit einem zynischen Lächeln abzulehnen. Mit dem Lernen geht es mehr oder weniger gut voran. Er ist sehr labil. Das erkennt man deutlich in der Lernkurve. Seiner Intelligenz zufolge müsste ihm eigentlich eine hohe berufliche Karriere bevorstehen. Stattdessen ist er nur Mittelmass und stets erfüllt von Angst davor, versagen zu können. Er hat viele Träume, er will die Welt kennen lernen, er will die menschliche Psyche erforschen, er will herausfinden, was es mit der Seelenwanderung auf sich hat und er wünscht sich ein Frauenheld zu sein. Er wünscht sich einfach erfolgreich im Leben zu sein.

Eines Tages verlässt Eduard das Lernzentrum. Er hat heute nicht viel getan. Anschliessend findet noch ein Jugendtreffen statt. Doch da will er nicht hin. Wieder einmal fühlt er sich von allen gedemütigt. Er will einfach nur nach Hause zu seinen Eltern. Es weht ein rauer Wind. Trotzdem kann er die Rufe einiger seiner Mitlernenden hören. Er versteht nicht, was sie ihm sagen, dafür sind sie zu weit weg. Er beginnt zu rennen. Statt das öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, rennt er wie von Sinnen weiter. Über seinem Kopf herrscht reger Verkehr, doch das interessiert ihn nicht. Er bleibt plötzlich erschöpft stehen. Er sieht sich um und stellt fest, dass er irgendwo im nirgendwo ist. Während es oben in der Luft nur so von beschäftigten Menschen wimmelt, sind die Gassen hier auf dem Boden dunkel und leer.

Das Bild eines Mädchens erscheint vor seinem geistigen Auge. Sie hat schwarzes lockiges Haar, grüne Augen, die von langen Wimpern umrandet sind und einen für ihn sehr erotischen Körper. Sie ist fünfzehn Jahre alt…

Vor einem Jahr begegnete er sie das erste Mal in eines der vielen Lernzentrums, seit her ist er krank vor Verlangen nach ihr. Doch bisher nahm sie ihn nicht wahr, bis auf heute, als er den Versuch startete, sie endlich anzusprechen. Er stellte sich wie immer in solchen Momenten sehr ungeschickt an. Er näherte sich ihr von hinten. Dabei spürte er wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er konnte nicht mehr zurück.

Vielleicht hätte er seines Erachtens das schlimmste noch verhindern können, wenn er einfach auf halbem Wege wieder zurückgekehrt wäre. Der Zeitpunkt schien wirklich sehr schlecht zu sein. Ihm entging nicht, dass einige ihn bereits beobachteten. Es waren auch Lernende in seinem Alter. Doch er liess sich wie eine Maschine von seinem Zwang treiben, sie einfach anzusprechen. Er klopfte ihr etwas unsanft auf die Schultern, worauf sie sich unvermittelt nach ihm umdrehte. Ihr Blick verriet Verblüfftheit, aber keine freudige Überraschung.

Das Gekicher der anderen ging los. Eduard nahm auf einmal alles um ihn herum wahr. Seine Gedanken spielten verrückt. Er begann sich unter anderem zu fragen, was er eigentlich von ihr wollte, da er ja nicht gut genug für sie wäre. Ihre vollen Lippen öffneten sich, um etwas zu sagen, doch sie schlossen sich wieder. Wie gerne hätte er sie in dem Moment geküsst. Doch der Moment heissen Verlangens dauerte nicht lange. Stattdessen nahm er seine eigene Stimme wahr, die eher einem Krächzen glich, als dem Klang eines interessanten jungen Heranwachsenden, der mit Worten die Angebetete zu verführen versuchte.

Dabei fuchtelte er mit den Händen wie wild herum. Indem Moment war er sich sicher, dass seine Verhaltensweise lächerlich war. Mit grossen Augen starrte sie ihn an. Das Gelächter der anderen war für ihn in aller Deutlichkeit zu hören. Plötzlich wurde sie von ihren Freundinnen in Beschlag genommen. Alle brachen in Gelächter aus und kreischten wie wild. Eduard blieb wie versteinert stehen, als sie sich von ihm entfernten. Sie rief ihm noch etwas zu, doch das nahm Eduard gar nicht mehr wahr…

Allmählich wird ihm klar, dass er sich an einem verlassenen Ort befindet. Schnell kehrt er wieder zurück. Sein Frust weicht der Angst, Freiwild für Kriminelle und Perverslinge zu sein. Hastig setzt er einen Fuss vor dem anderen. Er beginnt bewusst zu wimmern, weil er verzweifelt nach einem öffentlichen Verkehrsmittel sucht. Einige dunkle Gestalten scheinen ihn aufzulauern. Er blickt in ihren grässlichen Fratzen, welche sich vor Verlangen nach ihm zu verzerren scheinen. Doch endlich erreicht er sein Ziel. Das lange Flugschiff kommt wie gerufen. Es trägt ihn heil nach Hause.

Draussen erwarten ihn einige Sicherheitsbeamte. Eduard, der sich in dem Moment nichts sehnlichster wünscht, als seine Eltern zu sehen, blickt verstört in das Gesicht einer hübschen Blondine. Sie gehört ebenfalls zu den Sicherheitsleuten und beginnt auf ihn einzureden. Er nimmt ihr Parfum wahr. Sanft legt sie ihren Arm um seine Schultern. Statt ihn nach Hause zu führen, führt sie ihn zu einem kleinen Flugobjekt. Eduard ist immer noch wie parallysiert. Er scheint kein einziges Wort von dem zu verstehen, was sie ihm sagt. Er sitzt schon drinnen. Seine Knie zittern. Was hat sie ihm eigentlich gesagt, wo fahren sie hin? All die Fragen schwirren wie wild in seinem Kopf herum…

Die folgenden Jahre scheinen an ihm vorbei zu ziehen. Doch die Zeit des Schmerzens und Entbehrungen hinter lässt in ihm Spuren. Er ist jetzt 29 Jahre alt. Er gehört wie seine Eltern damals zur nicht arbeitenden Schicht. Er verbringt den Tag damit, sich zu fragen, ob er jemals eine Frau kennen lernen wird, ob er jemals beruflich erfolgreich sein wird und er endlich der sein kann, der er schon immer sein wollte. Er kann sich noch gut erinnern, als er damals von der Ermordung seiner Eltern erfuhr…

Die blonde Frau teilte ihm das ganz sachlich mit. Von da an lebte er als elternloses Mitglied des Staates in einer Wohneinrichtung für Waisenkinder.

Da er schon 16 Jahre alt war, schenkte man ihm nicht dieselbe Aufmerksamkeit, wie einem jüngeren Kind in ähnlicher Situation. Er hörte vorerst einmal noch nicht auf weiter von schönen Frauen und einer erfolgreichen beruflichen Karriere zu träumen, doch der Schmerz über den Verlust seiner Eltern überschattete all seine anderen Gefühle. Schon bald sollte er das wahre Grauen am eigenen Leibe erfahren.

In den folgenden Jahren hatte er das Gefühl täglich zu sterben, um gezwungenermassen wieder auferstehen zu müssen, um dann wieder zu sterben und wieder und wieder. Vom ersten Tag an bekam er Aggression und Perversion dieser Erziehungsanstalt am eigenen Leib zu spüren. Ganz nebenbei eckte er mit Lehrenden und Mitlernenden gleichermassen an. Er machte mit dem Lernen immer weniger Fortschritte.

Bis zu seinem 21ten Lebensalter verbrachte er in einer Erziehungsanstalt, wo er physische und psychische Misshandlung erfuhr. Hatten die Erziehungsmethoden gefruchtet oder war er einfach gebrochen? Auf jeden Fall wurde er immer ruhiger. Anfangs reagierte er auf die schrecklichen Bestrafungen mit innerer und äusserer Abwehr, doch irgendwann hörte er auf zu denken und zu fühlen. Er verkroch sich in sein Schneckenhäuschen und wartete auf ein Ende. Es kam kein Ende.

Dafür wurde ihm ein neues Leben geschenkt. Er erhielt eine Therapie, ihm wurde eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt, was eigentlich für eine Selbstverständlichkeit galt, und er bekam die Genugtuung, dass man ihn als Opfer und nicht als Verbrecher betrachtete.

Seither lebte er allein und zurückgezogen in seiner 1-Zimmerwohnung und wartete auf ein Wunder. Doch weder Frauen noch interessante Jobangebote klopften an seiner Tür…

Mit seinen 29 Jahren kann er leider immer noch nicht behaupten, dass sich sein Lebenszustand seither geändert hat. Er scheint in all den Jahren nicht geistig gewachsen zu sein. Er fühlt sich immer noch wie der damals 16 Jährige, der seine Eltern vermisst und sich in der Welt klein und verloren vorkommt…

Der Tag bricht an. Der 29 jährige Eduard steht hilflos vor dem Fenster. Er ist wie versteinert vor Angst. Plötzlich tauchen einige Roboter auf. Damit hat er nun wirklich nicht gerechnet. Es sind riesige Maschinen ohne menschliche Formen. Ohne anzuklopfen brechen sie in seine heimelige Wohnung ein. Eduard blinzelt benommen. Er steht immer noch wie angewurzelt da. Aus den Bäuchen dieser Maschinen schiessen schwarze Rauchschwaden heraus. Die ganze Wohnung füllt sich mit giftigen Gasen.

Eduard bleibt nichts anderes übrig, als fluchtartig den Raum zu verlassen. Draussen erwartet ihn ein Durcheinander, das er nicht erwartet hat. Völlig benommen beobachtet er die vielen Maschinen und Menschen, welche verzweifelt über ihr Leid klagen oder ihren aggressiven Gefühlen freien Lauf lassen.

„Heute ist Stichtag.“ Diesen Satz hört er in dieser kurzen Zeit, wo er völlig orientierungslos umherlatscht, schon mehrere Male.

Er weiss nicht, wohin er gehen soll, er latscht einfach wie ein Betrunkener weiter. Noch fühlt er keinen Hunger, keinen Durst. Ab heute gibt es keine Gratiswohnmöglichkeiten. Für Eduard scheint ein Alptraum jetzt begonnen zu haben. Es ist der zweite in seinem Leben. Er kann sich noch gut an seinen ersten Alptraum erinnern, aus dem er erst nach vielen Jahren wieder erwacht war…

  
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