Juraj Jascur

Nach Zuneigung folgt Abscheu

Ich will mich unbedingt mit Samuel Schmuhl treffen, weil mich das abrupte Ende von Peters Lebensgeschichte etwas irritiert. So interessant und eindrücklich die Erzählung der Kindheit und Jugendzeit von Peter auch gewesen sein mag, sie reicht nicht aus, um seine Person in seinen vollen Zügen fassen zu können. Ich habe das ganze Internet durchforstet, um nach Hinweisen zu suchen, um mehr über Peter zu erfahren. Doch ich finde nichts. Was war der Grund, dass Samuel die Geschichte von Peter nur bis zu seinem 21igsten Lebensjahr geschrieben hat…

„Ich war nicht ganz ehrlich zu dir! Tut mir leid! Ich war selbst schon etwas alkoholisiert und hatte das Bedürfnis etwas loszuwerden, das ich schon Urzeiten alleine mit mir rumschleppe.“.

Ich blicke in Samuels sanfte Augen. Sein Gesicht wirkt nicht mehr so feurig, sondern traurig und müde. Ich glaube sogar Angst in seinen Augen erkennen zu können.

„Samuel, du hast mich neugierig gemacht! Du hast mich dazu gebracht, dass ich mich wieder für Peter zu interessieren beginne. Ich habe deine Website aufgemacht und einiges über seine Kindheit erfahren. Ich meine, allein seine Kindheit war schon traumatisierend. Sein Lebenslauf entspricht dem eines 0-8-15-Psychopathen!“.

Samuel schmunzelt und runzelt seine Stirn. Für seine 41 Jahre sieht er sehr jung aus. Kaum zu glauben, dass er nur 9 Jahre jünger ist als unser Schweizerführer.

„Ich muss dir etwas beichten und ich schäme mich zutiefst dafür! Ich habe Angst! Meine Angst ist so gross und so tief, dass sie mich innerlich zu verzerren droht! Ich bereue es, dich je mit meinem Problem behelligt zu haben!“.

„Welches Problem? Was meinst du überhaupt?“, unterbreche ich ihn erregt.

Tief in meinem Innern kenne ich die Antwort. Er braucht mir eigentlich nichts mehr zu sagen. Ich weiss leider nur zu gut, wovon er spricht.

„Wenn du wüsstest, was mich beschäftigt, was mich beängstigt…ach, was solls! Ich hab schon zu viel gesagt! Es ist besser, wenn wir nicht mehr davon sprechen! Du sorgst dafür, dass du Peter Kaufmann nicht mehr über den Weg läufst und ich entschuldige mich dafür, dich jemals belästigt zu haben….“.

„Halt, so aber nicht!“.

Meine Stimme klingt barsch. Ich lasse nicht zu, dass der Mann, der mir womöglich helfen kann, die Welt zu retten, sich von mir abwendet. Denn ich erkenne das in seinen Augen. Vielleicht ist er in Not. Aus unerklärlichen Gründen fühle ich mit ihm stark verbunden.

„Du kannst mir nicht einfach auf die Schultern klopfen, im Sinne von: „Hey, hier ist die Büchse von Pandora, da ist der Schlüssel!“, und im selben Moment reisst du mir den Schlüssel wieder aus der Hand: „Ach, sorry, ich kann dir denn Schlüssel nicht geben!“.“.

Ich fühle mich wieder in meinem Element. In diesem Augenblick fühle ich mich wieder stark und frei. Ich fühle mich wie der Auserwählte, der sich dazu berufen fühlt, die Welt zu retten. Samuel senkt sein Haupt und fährt mit der Hand über seine Haare. Dabei verzieht er sein Gesicht zu einer Fratze, in welcher ich nur Schmerz und Angst zu erkennen vermag.

„Es hat einen Grund, dass ich aufgehört habe, weiter über ihn zu schreiben! Ich habe Angst! Todesangst! So, jetzt ist es raus! Deshalb will ich unter allen Umständen vermeiden, dass du da mit hineingezogen wirst. Für mich ist es zu spät. Du solltest dich nicht mehr in Zukunft mit mir treffen. Jeder weitere Umgang mit mir steigert das Risiko, dass man dich ebenfalls als einer meiner Verbündeten betrachtet.“.

Ich blicke Samuel fest in die Augen. Ich wage es seine Hand zu berühren, mit dem Risiko, dass er sich dadurch noch mehr von mir abwendet. Doch er rührt sich nicht, als er meine warme Hand spürt.

„Ich war elf Jahre alt, als die Welt vor meinen Augen zusammenbrach…“, beginnt er mit leiser Stimme.

„Meine Eltern, beides hochdekorierte Neurochirurgen befanden sich auf einem Ärztekongress in New York. Ich musste in der Schweiz bleiben. Ich war in einem Internat für Hochbegabte.“.

Er lacht voll bitterer Ironie.

„Am 16. Juli 2020 kamen meine Eltern ums Leben. Die riesige Flutwelle hatte sie und all die vielen Menschen einfach überschwemmt. Ich erfuhr es dann ein paar Tage später. Unter normalen Umständen hätte der Staat die Kosten für meine Ausbildung übernommen. Meine Eltern, die bisher Monat für Monat in mich investiert hatten, waren nun tot. Die Umstände waren alles andere als normal. Die Umwelt um mich herum verwandelte sich in kürzester Zeit in ein Irrenhaus. Die Schule wurde aufgelöst und wenig später erfuhr ich, dass dieses riesige Gebäude von irgendwelchen Bauern besetzt wurde. Ich fühlte mich voller Angst und Trauer.

Wie ein Fisch an Land schnappte ich verzweifelt nach Luft. Ich durfte für fast einem Jahr bei der Familie meines besten Schulfreundes wohnen. Nach etwa 11 Monaten erschienen jedoch bei uns ein paar Uniformierte und schleppten mich in eines der vielen Kindertagesstätten. Das waren Auffangeinrichtungen für Waisen. Ich kann nicht sagen, was mich mehr erschütterte. War es der Tod meiner Eltern oder der plötzlich Umzug in dieses Heim. Die Familie meines Freundes kümmerte sich rührend um mich. Sie half mir, mit den abrupten Veränderungen in meinem Leben zu Recht zu kommen. Nicht nur der Tod meiner Eltern schockte mich. Die ganze Welt spielte verrückt.

Schulen wurden geschlossen, die meisten Arbeitsverträge aufgelöst und in den Strassen lauerten dunkle Gefahren. Man versicherte mir damals, dass es nur zu meinem Besten wäre, wenn ich von dieser Familie fortgebracht würde. Sie könnten mich auf Dauer nicht beschützen. Erst viel später erfuhr ich dank meinen Recherchen, dass diese Familie, die ich niemals vergessen werde, kurze Zeit nach meinem Auszug, in ein riesiges Lager gesteckt wurde. Dieses Lager war mit einem Ghetto zu vergleichen und existiert noch immer. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, weil es mich zu sehr schmerzt. Na, ja, da war ich nun ganz allein inmitten einer Horde Wahnsinniger, Traumatisierten und verwahrloster Kinder und Jugendliche. Ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Doch ich irrte mich gewaltig. Es wurde schlimmer.

Ich wurde das Opfer von Gewalt, Vergewaltigung, Demütigungen und Ausbeutung. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Mensch soviel aushalten kann. Ich kann mit Recht behaupten, dass mein Leben die reinste Hölle war und ich es nur meinem Überlebenswille zu verdanken hatte, dass ich nicht krepierte. Fern von der Zivilisation lebten wir in eines der vielen Bunker der Schweiz. Wenn wir nach draussen durften, dann nur, um bis zur Erschöpfung zu marschieren oder irgendwelche gefährlichen Geländeübungen zu machen. Ich habe in dieser Zeit die Wälder und Alpen der Schweiz zu genüge kennen lernen können.“.

Wieder lacht Samuel voller ironischer Bitterkeit.

„Die Schweizernatur ist überwältigend schön. Doch das ging mir damals als Kind und später Jungendlicher an meinem Allerwertesten vorbei. Ich war schon glücklich, wenn man mich wenigstens für wenige Stunden in Ruhe liess, wenn ich nicht dauernd von grösseren Kids angegriffen, gedemütigt oder gefoltert wurde oder wenn ich nicht dauernd bis zur Erschöpfung im Bunker, das vielmehr einer Fabrikationsstätte glich, schuften musste. Ich kann dir nicht sagen, was für mich schlimmer war: in ruhigen Momenten darauf warten, was mich in Zukunft noch erwartet oder mich bereits mitten drin im Sumpf des Wahnsinns zu befinden. Und dann, einfach so urplötzlich nahm mein Leben eine ganz besondere Wende.“.

Samuel scheint in die Ferne zu starren. Man hat das Gefühl, dass er mit seinem Geist wieder irgendwo in der Vergangenheit ist.

„Ich hätte nicht gedacht, dass der Anblick von Bauern in mir Glücksgefühle auslösen würde. Es war am 17. September 2027. Ich war 18 und gehörte inzwischen zu den älteren Insassen. Ich brauchte mich nicht mehr vor irgendwelchen aggressiven Kids zu fürchten. Ich hatte keinen Grund mehr dazu. Dafür spielte ich die Beschützerrolle für die Jüngeren und Schwächeren, die dasselbe Leid durchmachten, wie ich damals. Trotzdem war ich nicht frei von Angst. Unsere Wärter, so nannte ich sie voller Bitterkeit, setzten mir und uns allen immer noch schwer zu. Ach so, ich habe ja fast den Faden verloren. Also nochmals zum 17. September 2027.

Wie aus dem Nichts tauchte bei uns eine grosse Armee von Bauern auf. Sie trugen die typische Einheitskleidung. Ich wusste deshalb sofort, dass es sich um Leute des Bauernvereins handelte. Ich hatte davon schon viele Jahre zuvor gehört. Doch es war so viel geschehen in letzter Zeit, dass ich mit diesen Daten nichts anfangen konnte. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie auf meiner Seite waren oder auf der Seite dieses kranken Systems.

Dass ihr System noch kranker war, hätte ich mir nicht im Entferntesten vorstellen können. Damals am 17. September 2027 glaubte ich von Herscharen von Engeln gerettet worden zu sein. Wie Heuschrecken fielen sie mit ihren Waffen über unsere Peiniger her. Es floss mehr Blut als du dir vorstellen kannst. Doch mir bereitete dieser Anblick innere Genugtuung. Das viele Blut versinnbildlichte mein tiefes Leid. Ich hatte das Gefühl von innen gereinigt zu werden. Das viele Blut hatte auf mich eine belebende, erfrischende Wirkung. Die ruppigen Bauern kümmerten sich um uns. Sie waren streng zu uns, aber wir waren ja schlimmeres gewohnt.

Wir waren wie Knet in ihren Händen. Sie hatten ein leichtes Spiel mit uns. Sie konnten uns formen, wie es ihnen beliebte. Zuerst einmal befreiten sie uns aus dem Bunker und gaben uns unser Leben zurück, na ja, zumindest das, was noch übrig geblieben war. Ich zum Beispiel durfte in eine eigene Wohnung ziehen und bekam sofort eine Arbeit. Es gab zu dieser Zeit praktisch keine Arbeitslose mehr. Na ja, mit „keine Arbeitslose“ meine ich einfach, es gab fast niemand, der nichts tat. Da ich die letzten 7 Jahre bereits die schlimmsten Arbeiten hatte verrichten müssen, die sich ein Mensch vorstellen kann, freute ich mich über jede Arbeit, die mich nicht all zu sehr auslaugte.

Ich begann in einem Lager zu arbeiten und fühlte mich wohl dabei. Ich lernte dabei einige neue Menschen kennen, die mir auf Anhieb sympathisch waren. In meiner Freizeit begann ich wieder mit Lesen. Doch das befriedigte mich auf die Dauer nicht. Ich musste etwas tun, etwas bewirken, etwas Bedeutungsvolles machen. Nun ja, ich begann mich immer mehr für meine Umwelt zu interessieren und entdeckte mein Talent zum Schreiben. Und so begann meine Karriere als Journalist. Zuerst waren es nur einige kleine Schreibversuche, die ich dann an alle Zeitungen verschickte. Seit etwa Mitte der Zwanziger begann es nur so von Zeitungsbüros zu boomen. Niemals zuvor und auch niemals danach waren die Journalisten so gefragt wie zu der Zeit zwischen 2025 und 2035.

Ich war noch nicht einmal ein Journalist. Aber man begann sich mit regelrechtem Heisshunger auf meine Artikel zu stürzen. Ich verdiente neben meiner Arbeit im Lager gutes Geld mit Schreiben. Kaum hatte ich mein 20igstes Lebensjahr erreicht, bot mir eine Zeitung einen Vertrag an, der sich für mich wirklich lohnte. Ich hängte meinen alten Job an den Nagel und konzentrierte mich nun von da an nur noch auf meine Tätigkeit als Journalist.

Endlich hatte ich die Gelegenheit meine wahre Berufung kennen zu lernen. Ich war nicht nur einfach jemand, der sich gerne informierte, recherchierte und darüber schrieb. Ich wollte der Wahrheit auf den Grund gehen. So war ich schon als Kind. Ich konnte damals noch nicht ahnen, dass diese Eigenschaft mir eines Tages zum Verhängnis werden könnte. In den folgenden Jahren begann ich mich immer mehr für politische und wirtschaftliche Themen zu interessieren. Die meisten Journalisten scheuten sich davor, über so heikle Themen wie Gesellschaft und Staat zu schreiben. Das war mir damals ein Rätsel. Heute glaube ich zu wissen, warum das so war.

Die Angst gab uns damals den Takt im Leben an. Ich denke, das hat sich bis heute nicht geändert. Auch ich hatte die Angst kennen gelernt. Ich war jedoch zu früh und zu intensiv mit Erlebnissen konfrontiert worden, um sie richtig verarbeiten zu können. Statt mich meiner Angst zu stellen, verdrängte ich dieses dumpfe und dunkle Gefühl und begann meine Umwelt immer abenteuerlicher zu sehen. Ich träumte davon, der beste Journalist der Welt zu werden. Ich war froh darüber, dass sich meine Konkurrenz nur an so leichte Themen wie Sexualität, Kinderpsychologie oder Gesundheit wagte. Somit hatte ich ein freies Feld, wo ich mich so richtig austoben wollte.

Es fing alles ganz harmlos und viel versprechend zugleich an. Meine sachlichen, ausführlichen und trotzdem sehr spannenden Artikel über den Staat im Allgemeinen erregten grosses Aufsehen, aber eher im Positiven. Da ich weder vorhatte das vorherrschende System in aller Öffentlichkeit anzuzweifeln, noch den Leser durch Unwahrheiten in die Irre führen wollte, hatte ich nichts zu befürchten. Mir war bewusst, dass die Welt schon chaotisch genug war. Also machte ich es mir damals zur Aufgabe, die Menschen ein bisschen zu orientieren, zu informieren und ihnen wieder so etwas wie ein Gefühl von Ordnung zu vermitteln. Die Leser meiner Artikel, welche von Stunde zu Stunde zunahm, waren begeistert von meinen ausführlichen Berichten. Endlich vermochten sie wieder so Begriffe, wie Bauernverein, Einheitspartei oder dunkle Organisationen besser zu fassen. Der Bundesstaat, die Schweiz, existiert schon lange nicht mehr.

Seit der grossen Flutwelle brach alles zusammen. Der Bauernverein versuchte von Anfang an dafür zu sorgen, dass wieder Ordnung in die Gesellschaft zurückkehrte. Doch das war alles andere als einfach. Dunkle Organisationen, welche für die Auflösung des gesamten politischen Systems verantwortlich waren, verrichteten ein regelrechtes Blutbad in der gesamten Welt. Ich konnte damals noch nicht wissen, dass all diese Organisationen schon vor Jahren existierten.

Irgendwelche kranke Spinner begannen aus reiner Explorationsfreude schon Jahrzehnte vor dieser Naturkatastrophe ein System zu kreieren, welches sehr lange Zeit hatte zu wachsen, zu gedeihen und sich zu vervollkommnen. Ich glaube nicht, dass diese weltfremden Nerds auch nur eine vage Vorstellung hatten, was sie eigentlich mit ihrem verrückten Schaffensdrang erschaffen hatten. Sie erschufen ein Monster, das nur auf den richtigen Moment wartete, um zu zubeißen.

Für den abrupten Zusammenbruch des gesamten Systems habe ich nur eine Erklärung, nämlich die dunklen Organisationen. Sie waren alle gleichgeschaltet, einheitlich und straff organisiert. Sie hatten vielfältige Namen, so dass die meisten Menschen davon ausgingen, es mit einem unübersichtlichen Haufen nebeneinander existierender Systeme zu tun zu haben. Doch dem war nicht so. Dass die gesamte Welt zusammenbrach lag nicht nur an dieser vermaledeiten Flutwelle. Dessen bin ich mir ganz sicher. Bauernvereine, welche ich damals als meine rettenden Engel eingestuft hatte, waren noch viel schlimmer. Dank eines einzigen Menschen wurde ein System erschaffen, das sich über all die kranken Organisationen stülpte.

Peter Kaufmann, den ich seit meiner Errettung aus der Hölle wie einen Gott verehrte und zu dem ich dann sogar in den folgenden Jahren eine starke Zuneigung entwickelte, repräsentiert in meinen Augen das absolut Böse, das ich zutiefst verabscheue.“.

Ich verbringe noch weitere Stunden bei Samuel zu Hause und fühle mich immer noch voller Abendteuerlust. Ich bohre immer weiter. Ich will zum Beispiel wissen, wie es dazu gekommen ist, dass sich Samuel vor Peter fürchtet.

  
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