Juraj Jascur

Dr. Raffael Schneider

Die Frage der Schuld

Mein Name ist Raffael Schneider, ich bin neununddreissig Jahre alt und seit drei Jahren in einer psychiatrischen Anstalt als Psychiater tätig. Dort behandle ich unter anderem Trudy Bollmann, dreiundvierzig, seit über vier Monaten. Warum ich mich dazu entschlossen habe, ausgerechnet über sie ein Buch zu schreiben, ist persönlicher Natur. Meine Mutter war allein- stehend und finanzierte meine Ausbildung als einfache Putzfrau. Sie hatte niemals Zeit, sich einmal auszuspannen. Wenn sie nach Hause kam, kochte sie das Essen und putzte unsere Wohnung. Später übernahm ich dann diese Arbeit. Mit Entsetzen stellte ich bereits als elfjähriger fest, dass sie ihre Haare verlor. Sie war erst fünfunddreissig und glich bereits einer alten Frau. Schon sehr früh schätzte ich ihr Bemühen, mich und sich über Wasser zu halten. Sie hatte niemanden ausser mir, der sie unterstützte.
Trudy erinnert mich stark an meine Mutter. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass die Welt, welche sie als das Monster verurteilt, versteht, was wirklich vorgefallen war. Als ihr Arzt steht es mir nicht zu, zu werten. Trudy stellt für mich nur irgendein Fall dar, den ich zu behandeln habe. Aber als Mensch fühle ich mich durch ihre Tat emotional angesprochen. Mein Buch soll nicht dazu dienen Trudys Tat medizinisch zu beurteilen, sondern dem Leser einen Einblick in ihr Leben zu vermitteln. Der Titel meines Buches lautet, «Der Fall Trudy».
In den Sitzungen kommt Trudy immer mehr aus sich heraus. Dabei verhält sie sich immer sehr aggressiv und greift mich verbal an. Ich verstünde nichts, betont sie immer wieder. Sie erlebt sich als die Verursacherin von all dem Leid, das um sie herum geschah. Die Trennung ihrer Eltern ist nur eines davon. Statt über die Menschen zu schimpfen, die sie ihr Leben lang mieden und sogar demütigten, verurteilt sie sich nur selbst.
Im Vorfeld habe ich mit einigen Routinetests abgeklärt, dass sie an keiner nennenswerten psychischen Störung leidet. Ihre verminderte Kommunikationsfähigkeit führe ich auf geistige, seelische und körperliche Vernachlässigung zurück. Von Geburt an erfährt sie zu wenig Liebe, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Seit ihrem zweiten Lebensjahr machte sie ihre Mutter dafür verantwortlich, dass sie ihr Mann sitzen gelassen hatte.
Trudy war zu jung, um sich zu wehren. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als Schuld auf sich zu laden. Sie fühlte sich schuldig, weil die Menschen sie auslachten. Sie fühlte sich schuldig, weil ihre Mutter sie täglich beschimpfte. Noch heute fühlt sie sich schuldig, weil sie lebt.
«Ach, wenn ich doch gar nicht erst geboren worden wäre! Dann hätte der Junge noch glücklich herumturnen können und müsste jetzt nicht als Krüppel dahinvegetieren!».
Es ist noch immer sehr schwierig, zu ihr vorzudringen. Bei ihr lösen die einfachsten Fragen heftige Wutreaktionen aus. Alles was ich über sie weiss, habe ich aus ihren Akten erfahren. Ich kenne ihren Geburtstag, ihre familiäre Herkunft, ihren schulischen und beruflichen Werdegang und den Tag, an dem sie die Kontrolle verlor. Ich würde gerne mehr über sie erfahren. Dass ich sie dazu animiert habe, zu schreiben, entspringt nur meinem Wunsch, mehr von ihr zu erfahren. Ich hoffe, dass sie mir eines Tages ihre Lebensgeschichte als Manuskript anvertrauen wird. Es wäre mir eine Ehre. Vielleicht werde ich dann sogar sie dazu zu überreden, dass wir uns zusammentun, unsere beiden Manuskripte zu einem Werk zusammenfügen. Das wäre mein Traum. Bis dahin ist noch ein weiter Weg zu gehen…
Mein Entschluss steht fest. Ich werde die Familie des Jungen besuchen, auf dessen Kopf der Tisch gestürzt war. Ich gebe zu, dass ich mich vor diesem Augenblick fürchte. Ich bin ja schliesslich auch nur ein Mensch. Ich werde mich dieser schwierigen Herausforderung stellen. Sie ist deshalb schwierig, weil es sich um eine Situation handelt, die ich nicht kontrollieren kann. Denn ich werde ihnen keinen offiziellen Besuch abstatten. Meine Vorgesetzten wissen nichts von meinem Vorhaben, mit diesen Menschen zu sprechen. Es wäre für mich viel einfacher, hätte ich mich hinter einem offiziellen Auftrag verstecken können.
Ich benutze das öffentliche Verkehrsmittel, weil ich viel zu aufgeregt bin, um selbst Auto zu fahren. Als ich die Bahn besteige, lenke ich die Aufmerksamkeit der Fahrgäste sofort auf mich. Das ist für mich nichts Ungewöhnliches. Ich bin es gewohnt. Ich bin hunderteinundneunzig Zentimeter hoch, wiege hundertneunzehn Kilo, bin sehr muskulös und mein Gesicht ist sehr markant. Doch meine Augen strahlen, ohne dass mir das wirklich bewusst ist. Aber es ist so. Schon als Kind bestätigte man mir, dass ich die Menschen mit meinen Augen auf positive Weise anspreche.
Niemand fühlt sich durch mich bedroht oder sich auf unangenehme Weise angegriffen. Wenn ich mit jemandem spreche, dann gebe ich ihm das Gefühl, dass er wertvoll ist, es verdient beachtet zu werden und einen guten Grund hat zu leben. Auf kleine Kinder habe ich eine besonders starke Wirkung. Ich scheine sie magisch anzuziehen. Neben mir sitzt ein kleines Kind im Kinderwagen und strahlt mich an. Ich vergesse die Welt um mich herum, weil ich das Gefühl habe Teil eines Wunders zu sein. Ich strahle, ohne es zu merken.
Der Mutter dieses Kindes entgeht es nicht, dass ich mit dem Kind kommuniziere. Sie ist klein, blass, übergewichtig und in ihrem Gesicht ist deutlich abzulesen, dass sie nicht viel in ihrem Leben erhalten hat.
«Ein reizendes Kind!», bemerke ich aufrichtig, als ich registriere, dass mich die Frau heimlich von der Seite beobachtet.
Ich bin ihr deswegen nicht böse. Im Gegenteil, ich weiss es zu schätzen, dass mich Menschen beachten. Obwohl ich seit meiner Geburt von den Menschen wertgeschätzt werde, halte ich es jedes Mal für ein grosses Geschenk, wenn mich jemand anlächelt.
«Danke! Ja, die Kleine mag sie. Das sehe ich!», bemerkt sie scheu.
Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen, bleibe ich vorerst auf Distanz. Vielleicht sollte ich meinen ersten Eindruck von ihr vorerst überdenken, bevor ich sie schon im Voraus als frustrierten Single abtue. Es könnte doch durchaus möglich sein, dass sie glücklich verheiratet ist. Plötzlich wendet sie sich dem Kind zu und verliert für einen Moment lang all ihre Hemmungen. Sie beginnt das Kind zu kitzeln, auf das hin es vor Vergnügen zu quietschen beginnt. Diese Lebenslust, die von diesen beiden ausgeht, geht auf mich über, bis ich mich als Teil dieser kleinen Familie fühle. Auch ich beginne zu lachen und dieses Kind anzuhimmeln, als ob ich ihr Vater wäre.
Plötzlich verändert sich ihre Haltung. Ich erkenne, deutlich, wie sich ihr Gesicht plötzlich anspannt und ihre Stimme versagt.
«Tut mir leid, aber wenn ich Kinder sehe, dann überkommt es mich manchmal!», entschuldige ich mich ruhig und entspannt.
Es gibt ja keinen Grund sich deswegen schlecht zu fühlen. Trotzdem entschuldige ich mich bei ihr, weil ich ihr mit meiner Art bestimmt zuviel zugemutet habe. Den meisten Menschen fehlt es an der nötigen Leichtigkeit, um das Leben so zu erfahren, dass sie nicht gleich beschämt zurückschrecken.
«Nein, nein, kein Problem! Das ist doch gut, wenn man Kinder mag! Lilly mag sie ebenfalls!».
Dieses Mal überrascht sie mich. Diese Offenherzigkeit habe ich nicht von ihr erwartet.
«Haben Sie denn auch Kinder?», fragt sie mich plötzlich ganz unvermutet.
Ich antworte ihr mit einem unschuldigen Lächeln.
«Nein, bedaure!».
«Oh, das tut mir aber leid! Sie wären bestimmt der perfekte Vater!».
Ich weiss, dass sie es ehrlich meint. Ich selbst bin mir da nicht so sicher. Ich mag zwar die Menschen mit meiner liebevollen Ausstrahlung beeindrucken. Aber bin ich wirklich für die Rolle eines Vaters geschaffen? So etwas weiss man nie im Voraus.
«Sagen Sie das nicht, gute Frau! Ein fremdes Kind zum Lachen zu bringen ist zwar schön und bestimmt auch wertvoll, aber es ist nicht mit der lebenslangen Hingabe eines Menschen für dieses Kind zu vergleichen.».
Die Frau ist sichtlich beeindruckt von mir.
«Oh, das haben Sie aber schön gesagt!», schiesst es aus ihr heraus.
«Ach, übrigens, ich muss die nächste Station aussteigen. Mein Name ist Raffael, Raffael Schneider. Vielleicht sieht man sich ja wieder!».
Ich weiss nicht, was plötzlich in mich gefahren ist. Wie kann ich mich einem wildfremden Menschen auf diese Weise nähern. Ich weiss ja noch nicht einmal, ob sie allein stehend ist oder nicht. Noch ehe ich aussteige, schreibt sie mir ihre Nummer auf. Ich kann es nicht fassen. Alles läuft bei mir wie in Zeitlupentempo ab.
«Da! Meine Nummer! Ich bin übrigens die Annette, Annette Braschke!», und überreicht mir den Zettel mit ihrer Nummer.
Vorsichtig greife ich danach, als ob es sich um ein rohes Ei handeln würde und stecke es wie einen kostbaren Schatz in meine Hosentasche. Völlig benommen steige ich aus. Ich stehe bestimmt noch mehrere Minuten regungslos da und starre dem Tram nach, der sich langsam von mir entfernt. Ich kann es noch immer nicht glauben. In meinem Schädel rauscht es wie wild. So fühlt sich offenbar Liebestaumel an. Bestimmt übertreibe ich. Denn ich weiss ja gar nicht, wovon ich spreche. Denn so etwas ist mir noch nie passiert. Ich war noch nie verliebt.
Ich mache mich nun auf den Weg und steuere direkt auf das Haus zu, gleich neben dem Schwimmbad. Ich bin noch immer etwas benommen. Meine Schritte fühlen sich unwirklich an. Ich habe noch immer das Gefühl, dass ich schwebe. Doch langsam ebben meine Gefühle ab. Als ich vor der Haustüre stehe, zögere ich einen Augenblick. Ich lese den Familiennamen auf dem Namenschild neben dem Klingelknopf. Krähenbühl. Was sage ich zu ihnen? Wie stelle ich mich vor? Wie werden sie reagieren, wenn sie erfahren, dass ich der behandelnde Arzt von Frau Trudy Bollmann bin.
Ich überwinde mich dazu, die Klingel zu betätigen. Die Türe geht plötzlich mit einem Ruck auf. Eine kleine zierliche Frau mit hohen Wangenknochen und Sommersprossen im Gesicht öffnet die Türe. Ihre Augen funkeln gefährlich. Sie scheint mich mit ihrem Blick zu durchleuchten. Ich kann mir denken, welche Wirkung ich auf sie mache. Ein Riesenkerl mit dem Körper eines Hulks steht plötzlich vor ihrer Haustür. Mein sanftmütiges Lächeln irritiert sie umso mehr.
«Guten Tag! Mein Name ist Raffael Schneider. Bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich einfach vor Ihrer Türe stehe, aber ich wollte sie in einer Angelegenheit sprechen! Wenn Sie jedoch nicht wollen, dann gehe ich auf der Stelle!».
Ich zögere.
«Es geht um die Frau, die ihren Sohn verletzt hat.», füge ich mit heiserer Stimme hinzu.
Frau Krähenbühl öffnet ihren Mund, ohne etwas zu sagen. Ihre Halsmuskeln spannen sich sichtbar an. Sie scheint nach Luft zu schnappen. In diesem Augenblick glaube ich, sie geht mir an die Gurgel. Stattdessen verzieht sich ihr Gesicht zu einem freundlichen Lächeln.
«Kommen Sie doch herein! Herr, wie ist noch einmal ihr Name?».
«Schneider!».
Mein Herz rast wie wild. Sie führt mich in ihre Wohnung. Ich staune über die vielen riesigen Räume. Gigantische Stufen führen nach oben. Am Geländer ist ein behindertengerechter Lift befestigt. Mein Blick fällt zufällig auf die vielen Fotos in Bilderrahmen, die einen kerngesunden, hübschen und aufgeweckten Jungen zeigen. Ich erstarre innerlich, als sie mich zu ihm in die Küche führt.
«Darf ich vorstellen? Das ist Tommy! Ich bin gerade dabei ihm das Essen zu geben.».
Ich starre auf das Kind im Rollstuhl, das mich mit klaren Augen anblickt. Sein Mund ist geöffnet. Der Speichel fliesst heraus. Wäre sein Blick nicht so klar und offen, hätte ich in ihm nur den Trümmerhaufen eines schrecklichen Unfalls gesehen. Ich nähere mich dieser Gestalt, die einmal draussen herumtollte, mit anderen Kindern spielte und in der Schule immer den Ton abgab. «Das ist nicht derselbe Junge wie auf den Fotos!», ist mein erster Gedankenimpuls. Doch je mehr ich in seine hellen, klaren Augen blicke, desto stärker fühle ich die Macht seines Geistes.
«Hallo, du Grosser! Tut mir wirklich leid, was mit dir passiert war! Ich wollte dich sehen, um mir von dir ein Bild zu machen! Du lebst noch immer! Das erkenne ich in deinen Augen!».
Dieser eine kleine Moment ist einmalig und bedeutend zugleich. Ich nehme Frau Krähenbühl gar nicht mehr wahr. Sie steht nur daneben und beobachtet uns beide. Es ist schrecklich zu erfahren, wie schnell sich das Leben eines Menschen verändern kann. Der Junge funktionierte einst, bevor man ihm sein Räderwerk im Schädel zerstört hatte. Hätte er nicht dieses Leuchten in seinen Augen, könnte ich nicht umhin, ihn als hoffnungsvollen Fall zu beschreiben. Jedes Wort, das ich an ihn richte, erreicht ihn auf verblüffende Weise. Er spitzt seine Lippen, um sich auf den Klang meiner Worte zu konzentrieren. Nach etwa zehn Sekunden sperrt er wieder seinen Mund auf und sabbert.
Die Zeitspanne seiner Konzentration dauert gerade mal wenige Sekunden. In mir meldet sich wieder der Psychiater, der einen neuen Fall entdeckt hat. Wenn sich Frau Krähenbühl nicht bei mir bemerkbar gemacht hätte, hätte ich sie wohl ganz vergessen.
«Können Sie ihm helfen?»…
Ich befinde mich auf dem Nachhauseweg. Ich sitze wieder in der Bahn und starre nach draussen. Von Frau Krähenbühl erfuhr ich, dass sich ihr Mann von ihr hatte scheiden lassen. Er konnte mit dieser Belastung nicht mehr fertig werden und flüchtete buchstäblich aus dem Leben seines Sohnes. Ihrer Stimme vermochte ich nicht zu entnehmen, dass sie ihn verurteilte. Sie war bloss traurig.
In einem Moment tiefster Bedrücktheit, fällt mir plötzlich Annette Braschke ein, deren Telefonnummer ich wie einen Schatz in meiner Hosentasche hüte. Ich schäme mich jedoch nicht deswegen, weil ich als Psychiater und Neurologe die geistigen Mechanismen der Menschen, mich eingeschlossen, so intensiv studiert habe, dass mich meine flüchtigen Gedanken, welche sich unkontrolliert ihren Weg aus den tiefsten Tiefen des Unterbewussten nach oben ins Bewusstsein bahnen, schon lange nicht mehr zu überraschen vermögen. Bereits als Teenager begann ich instinktiv einen gesunden Abstand zu meinen flüchtigen homophilen, pädophilien und zerstörerischen Gedanken zu nehmen, weil ich erkannte, dass sie nichts mit meiner Persönlichkeit zu tun hatten.
Als Sechzehnjähriger erlebte ich uns alle als Opfer kollektiver Erscheinungen, welche sich in unseren Köpfen als Spiegel unserer kranken Gesellschaft manifestierten. Trudys zerstörerische Tat stellt nur eine Abart sozialer Systemfehler dar. Der Tisch hätte ebenso gut den Jungen verfehlt haben können. Dann wäre Frau Trudy Bollmann nicht in einer geschlossenen Anstalt, hätte bloss medizinische Betreuung erhalten und wäre für einige Monate beurteilt worden. Diese Zufallssituation reicht schon vollkommen aus, um die Perversion unseres Lebens zu verdeutlichen. Um nicht als Zyniker zu enden, beschloss ich schon vor Jahren, die Liebe als einzige Wahrheit anzuerkennen.

  
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