Juraj Jascur

Das Streben nach Perfektion

Obwohl sich Kiara gründlich mit der Biographie von Eva und Jeremias auseinandergesetzt hat, erkennt sie in aller Deutlichkeit, dass sie nichts über die beiden weiss. Die von ihr akrybisch zusammengetragenen Daten über die beiden Personen gewähren keinen Einblick in das wahre Leben dieser beiden Menschen, deren Erbe schwer auf ihren Schultern lastet…
Eva kommt am 28. Juli 2004, in einer Stadt in der Schweiz zur Welt, die nicht einmal 200000 Tausend Einwohner zählt. Dass sie in einem finanziell gesicherten Haushalt aufwächst, verdankt sie nicht ihren Eltern. Ihre Mutter, die an einer schweren bipolaren Störung leidet, bedarf ständiger Aufsicht.
Ihr Vater ist ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Das gilt auch für die anderen Väter ihrer älteren Geschwister, welche sich schon in jungen Jahren um die psychisch kranke Mutter, den Haushalt und sonstigen Alltagspflichten kümmern, und für eine Aufbesserung der finanziellen Verhältnisse sorgen. Eva weiss nicht einmal zu schätzen, welche Last ihre älteren Geschwister auf sich nehmen, um ihr Leben zu erleichtern. Ihr ältester Bruder, Ramos, übernimmt die meiste Verantwortung. José, Maria und die anderen unterstützen ihn tatkräftig.
Sie leben alle in einem riesigen Haus, in das sie vor geraumer Zeit eingezogen sind. Sie zählen 15 Kinder, welche alle zu sehr damit beschäftigt sind, ihren Alltag zu meistern, als dass für sie noch Zeit zum Spielen übrig bleiben würde. Sogar Eva, die Jüngste, wird noch vor ihrer Einschulung von dieser Familienhektik angesteckt.
Dass etwas fehlt, weiss sie schon seit ihrer Geburt. Doch erst als erwachsene Frau kann sie in Worte fassen, was sie ihr Leben lang vermisst. Geborgenheit, Liebe, Zuneigung, all das sind für sie bloss Worte, die sie nur aufgrund ihrer überragenden Intelligenz schon sehr früh zu definieren weiss. Der Erstgeborene, Ramos, geboren am 17. Juli 1987, zählt schon 24 Jahre, als Eva eingeschult wird. Er scheint in ihren Augen keine Gefühle zu besitzen. Sie kann sich nicht erinnern, jemals von ihm ein zärtliches Wort gehört zu haben.
Ramos gleicht einem kalten Felsen in der Brandung, auf den sich alle verliessen. Statt sich um sein eigenes Leben zu kümmern, bleibt er, verharrt er hier in diesen Mauern des Wahnsinns, um für seine Mutter und seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Dank seiner herausragenden Fähigkeiten arbeitet er sich sehr schnell zum Informatikexperten hoch.
Als Ältestes Kind einer unfähigen Mutter fühlt er sich dazu verpflichtet, schon als Teenager nach Beendigung seiner obligatorischen Schule, irgendwo in einem Lager zu arbeiten. Bereits mit 16 beschreitet er den Berufsalltag eines Erwachsenen. Abends bildet er sich in Informatik weiter. In seiner Freizeit kümmert er sich um die Angelegenheiten seiner jüngeren Geschwister, um die Rechnungen und um ihre kranke Mutter. Obwohl seine jüngeren Geschwister nicht so stark mit der Realität in Berührung kommen, fehlt es ihnen nicht an Verantwortungsgefühl. Dankbar nehmen sie Ramos’ Opfer an und unterstützen ihn, wo sie nur können.
Sie sind ein eingespieltes Team. Logistik, Arbeitsteilung, Zeitmanagement, ja, das sind die Schlagworte, die zu dieser Familie Gruber passen. Dabei werden sie ihrer eigenen Gefühlswelt, ihrer Bedürfnisse, überhaupt ihrer ganzen Kindheit beraubt. Eva kann sich nicht erinnern, dass etwas einmal nicht funktionieren würde. Jedes dieser fünfzehn Kinder gleicht einem Zahnrädchen in einer grossen Maschinerie. Ausnahmslos alle meistern Schule, Haushaltspflichten und überhaupt ihr ganzes Leben.
Ab einem gewissen Alter beginnen sie sich bewusst um ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Statt ihrem ältesten Bruder ständig auf der Tasche zu liegen, verdienen sie sich etwas in ihrer Freizeit dazu. Entweder geben sie Nachhilfeunterricht, leisten kleine Supportingaufträge, erledigen die Buchhaltung und Steuern für Bekannte oder tragen Zeitungen aus. Eva kann sich nicht erinnern, dass sie sich einmal in völliger Ausgelassenheit zusammenfinden.
Wenn Eva Schutz und Geborgenheit sucht, dann weiss sie sehr wohl, wohin sie gehen muss. Ihr Bezugspunkt ist ihre Mutter, Kathrin Gruber, die offenbar als einzige in dieser Familie zu wissen scheint, was wahre Liebe ist.
Wenn ihre Mutter nicht gerade eines ihrer Tobsuchtsanfälle hat oder sich in den dunklen Gassen der Stadt verirrt, um zwielichtigen Verlockungen nachzugehen, beehrt sie die Familie mit ihrer Anwesenheit. Wie ein Kind staunt sie über die Geschäftigkeit ihrer Sprösslinge, erkundigte sich nach dem Essen oder schmollt, wenn eines ihrer Älteren ihr einen Wunsch verweigern. In den Augen von Eva, isst sie das Kind und ihre Geschwister ihr Vormund.
Eva sucht noch lange bei ihrer Mutter Trost und Geborgenheit. Ihr durch die vielen Schwangerschaften, exzessiven Alkoholkonsum und wilden Partys ausgemergelter Körper lädt sie immer wieder dazu ein, sich an sie zu lehnen, sie zu berühren, Streicheleinheiten zu bekommen. Von ihren älteren Geschwistern kann sie das nicht erwarten.
Ihre Mutter kommt am 30. Oktober 2014 ums Leben, nachdem sie betrunken auf der Strasse herumgetorkelt und von einem Laster überfahren worden ist. Eva führt ihr Leben weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Sie hat im Grunde alles, was man zum Leben braucht. Finanziell ist für sie gesorgt. Statt sich mit dem Verlust ihrer Mutter auseinander zu setzen, lebt sie in ständiger Verdrängung und konzentriert sich immer mehr auf ihre Leidenschaft, nämlich der Biologie. Sie folgt dabei einfach dem Beispiel ihrer Geschwister, indem sie bewusst zu brillieren versucht und dabei immer erfolgreicher wird.
Natürlich fällt Eva schon im Kindergarten durch ihre herausragenden Fähigkeiten auf. Sie realisiert das anfangs gar nicht. Aber erst seit dem Tod ihrer Mutter wird ihr bewusst, wie stark sie sich von ihren Mitschülern unterscheidet, und dass sich auch ihre älteren Geschwister in Schule, Ausbildung und Beruf vom Rest der Welt abheben. Sie folgt ihrem Beispiel, indem sie sich von der Umwelt auf kühle und nüchterne Art zu distanzieren beginnt. Statt sich mit ihren Altersgenossen anzufreunden, unternimmt sie alles, um sie intellektuell zu übertrumpfen. Für sie besteht die Welt nur aus Konkurrenzen, welche ihr den Weg zu ihren Träumen zu versperren versuchen.
Aus Angst zu versagen, folgt sie einfach den Anweisungen ihrer älteren Vorbilder, welche es nicht versäumen, ihr die nötigen Lebensweisheiten auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter mitzugeben. Sie überspringt zwei Klassen, um früher studieren zu können. Mit 17 beginnt sie ihr Biologiestudium, mit 20 doktoriert sie und bewirbt sich als Assistentin für ein renommiertes biologisches Institut in Washington. Natürlich wird sie angenommen. Sie beginnt dort als einfache Assistentin und lernt Jeremias kennen, der eine ähnliche Position in einer anderen Abteilung innehat.
Gemeinsam erklimmen sie die Leiter ihres beruflichen Aufstieges. Beide fühlen sich zueinander hingezogen. Die Anziehung ist weniger körperlicher Natur. Es ist vielmehr ein Gefühl von Seelenverwandtschaft.
Beide teilen ein tiefes Leid. Beide vermissen in ihrer Kindheit Liebe und Geborgenheit. Während sie sich täglich treffen, Gedanken austauschen, über ihre berufliche Ziele sprechen, kommen sie sich näher. Endlich wagen sie es, eine Grenze zu überschreiten, indem sie zum ersten Mal ihres im Grunde kümmerlichen Lebens den persönlichen Bereich eines anderen Menschen betreten.
Es ist an einem Sommernachmittag, am Sonntag, als sie sich zum ersten Mal ausserhalb ihrer Arbeitszeiten verabreden. Während sie durch die breiten Parkalleen schlendern und schweigen, scheinen sich ihre Gedanken zu verselbständigen. Alles spricht für ein klassisches Date. Sie verbindet nicht nur ihr Interesse, ihre beruflichen Ambitionen, ihre Schweizerwurzeln, sondern auch ihr tiefes Leid, nie die Liebe erfahren zu haben, nach der sie ein Leben lang gesucht haben.
Eva blickt hin und wieder scheu zu Jeremias, der viel grösser ist als sie. Er ist dunkelhaarig, hat schöne blaue Augen und ist von kräftiger Statur. Im Vergleich zu all den Männer, die ihr bisher begegnet sind, erscheint er ihr gesunder und schöner. Er strotzt voller Kraft. Mit Ausnahme ihrer Geschwister hat sie all ihre Mitmenschen als unvollkommen, schwach, hässlich, dumm und völlig uninteressant erlebt. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie jemals einen Menschen, ausserhalb ihrer perfekten Familie, treffen würde, der in ihren Augen perfekt wäre.
Jeremias verkörpert für sie den perfekten Menschen. Also ist es für sie selbstverständlich, dass sie sich mit ihm zusammentut. Umso grösser ist ihre Angst, dass sie vielleicht falsch liegen könnte. Statt sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen, zieht sie es vor, in ständiger Verdrängung zu leben, so wie sie es bisher immer getan hat.
Jeremias Gedanken kreisen ständig um die eine Frage, ob sich sein bisher unerfüllter sexueller Drang mit seinem Wunsch vereinbaren lässt, sich mit einem Seelenverwandten Menschen zu vereinen. Eva verkörpert für ihn vom rein Optischen her, den klassischen Typ Frau dar, nach der sich die Männer umdrehen. Ihre breiten Hüften, ihr wohlgeformter Hinter, ihre langen athletischen Beinen, ihre stattlichen Schulter und ihre grossen Brüste würden schon für jeden anderen Mann ausreichen, um sich in sie zu verlieben.
Vielleicht ist es auch der karibische Einschlag Seitens ihrer Grossmutter, der ihr das gewisse Etwas vermittelt. Doch für Jeremias ist es wichtig, dass sie auch seinen geistigen Ansprüchen entspricht. Ihre grünen Augen sind von langen Wimpern umrandet. Ihr langes blondes und geschmeidiges Haar bedeckte ihre nackten Schultern. Dieses Date stellt für beide eine völlig neue Art von Herausforderung dar. Der Gedanke sich körperlich zu vereinigen, scheint für beide noch in weiter Ferne zu liegen.
Die beiden lassen die unterschiedlichsten Themen in ihre Unterhaltung hineinfliessen, um von ihrem eigentlichen Grundbedürfnis abzulenken, nämlich die nach wahrer Liebe. So sehr sie sich dagegen wehren, ihre gegenseitige Anziehung ist viel zu stark, als dass sie sich aus diesem Strudel der Gefühle würden befreien können.
In den letzten vier Jahren haben sie genügend Gelegenheit gehabt, ihre Gefühle füreinander zu erkunden. Jeremias weiss, dass er sich in ihrer Nähe mehr als nur wohl fühlt. Abgesehen davon, dass er mit ihr auf derselben Wellenlänge schwingt, kann er sich seiner sexuellen Erregtheit nicht mehr erwehren, wenn sie in seiner Nähe ist oder wenn er an sie im Stillen denkt. Seine Angst, das freundschaftliche Band zwischen ihm und ihr zu zerstören, hat bisher seinen Drang überwogen, sich mit ihr körperlich zu vereinigen.
Doch an diesem ersten Date fällt es ihm sehr schwer, seine leidenschaftlichen Gefühle für sie zu unterdrücken. Noch nie sind ihm ihre weiblichen Reize so stark aufgefallen, wie an jenem Tag, den 29. Juni 2028. Während er immer noch mit sich ringt und sich immer wieder die Frage stellt, ob er sich ihr öffnen solle, und ihre Freundschaft, die bisher rein kollegialer Natur gewesen ist, aufs Spiel zu setzen, spürt er auf einmal, wie sich ihre Finger um sein Handgelenk schliessen. Sein Herz klopft vor Verlangen, ihre Zärtlichkeiten zu erwidern. Doch er starrt nur in die Weite, in der Hoffnung, dass sich alles irgendwie einrenken würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben startet er den Versuch eine Lösung zu erhoffen, ohne selbst dabei aktiv mitzuwirken. Seit er denken kann, gehört das Lösen von Aufgaben zu seinem Alltag. Schon als kleines Kind muss er Leistungen vollbringen. Seine Mutter verlangt das von ihm. Unnachgiebig fordert sie ihn heraus. Wenn sie glaubt, seine Grenze erreicht zu haben, überrascht er sie aufs Neue. Statt einer klassischen Sohn-Mutter-Beziehung herrscht zwischen den beiden so eine Art von Arbeitsverhältnis. Statt Küsse und Griesbrei gibt es Buchhaltung, Genforschung oder Formeln zum Frühstück.
Regula erlebt er nicht wirklich als seine Mutter, sondern vielmehr als eine Art Informationsspeicher, oder Datenvermittler. Doch kaum zehnjährig macht er die furchtbarste Entdeckung seines Lebens, nämlich die, dass niemand mehr ihm Wissen beibringen kann. Ein Gefühl von unendlicher Melancholie und Einsamkeit kommt in ihm hoch. Seither bildet er sich autodidaktisch weiter. Seine Mutter, Regula Stohler, verliert für ihn immer mehr an Bedeutung.
Als er die Hand von Eva spürt, erinnert er sich, wie er sich als Junge eine Mutter wünscht, die ihm noch etwas beibringen kann. Er wendet sein Gesicht zu seiner Traumfrau, blickt in ihre grünen Augen und scheint sich 100%ig sicher zu sein, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hat. Plötzlich hält er an. Verzweifelt blickt er sie an.
„Sie möge mir doch einen Hinweis geben…Bitte!“.
Noch vor wenigen Minuten ist alles anders. Wie von Geisterhand gesteuert nähern sich seine Lippen den ihren. Er denkt an seine Mutter, die am Anfang für ihn die ganze Welt bedeutet und dann plötzlich auf erschreckende Weise sich als unvollkommen entpuppt. Sie wagen es nicht ihre Lippen zu öffnen. Der trockene und doch voller Leidenschaft erfüllte Kuss verstärkt in den beiden das Verlangen, sich zu vereinigen.
Wie zwei unschuldige Kinder beschliessen sie stillschweigend einer ungewissen Zukunft entgegenzusteuern. Zum ersten Mal in ihrem Leben lassen sie sich treiben. Sie passieren einige Strassen und enden plötzlich vor Evas Appartement. Als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, öffnet sie die Türe und gewährt Jeremias Einlass. Gemeinsam betreten sie das Heim einer Frau, die bisher noch nie einen Mann berührt hat. Jeremias, dem diese Situation so vertraut und gleichzeitig so unrealistisch vorkommt, steht wie angewurzelt mitten auf dem Flur stehen. Eva fühlt sich selbst unbeholfen. Sie weiss auf einmal nicht, wie sie sich verhalten soll. Noch bevor es peinlich wird, holt sie für ihn und sich ein erfrischendes Getränk.
Schweigend schlürfen sie die süsse Flüssigkeit in sich hinein. Dabei klirrt das Eis auf viel versprechende Weise. Er kann nicht umhin, als mit seinen Augen den unruhigen Bewegungen ihrer Beine zu folgen. Dieser Anblick macht ihn innerlich fast wahnsinnig vor Geilheit. Äusserlich wirkt er ruhig und bedächtig. Der schöne grosse Mann legt behutsam sein Glas auf einen Blumentisch und nähert sich ihr. In diesem Moment fühlt er sich total entzweit, als ob er neben sich stünde, und jedes seiner physischen Handlungen beobachtete…

  
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