Juraj Jascur

Prolog

Albert Moser ist inzwischen 75 jährig. Nur mit Mühe überwindet er sich dazu, seine Wohnung zu verlassen. Sein Ziel ist die Selbsthilfegruppe, die er vor geraumer Zeit ins Leben gerufen hat. Er führt sie an. Wie ein Fels in der Brandung zieht er all die sexuell Traumatisierten an, die sich wie Schiffbrüchige an ihn festhalten. Also denkt er sich, kann er nicht anders, als den Ort aufzusuchen, wo er glaubt, seine Bestimmung zu finden, seine Erfüllung.
Kaum betritt er die Strasse, blendet ihn das grelle Licht auf sehr unangenehme Weise. Er blinzelt und zuckt innerlich zusammen. Er erblickt sie. «Oh Gott! Sabine Wenger», denkt er panisch. Er erkennt diese rüstige Gestalt von weitem. Wie sie breitbeinig dasteht, ihn mit ihren funkelnden dunklen Augen anstarrt, glaubt er zu wissen, dass er es bald erfahren wird. Die Wahrheit, vor der er sein ganzes Leben geflüchtet ist. Er will nicht und klammert sich verzweifelt an die Hoffnung, dass es sich um eine Einbildung handelt.
Der alte Mann braucht seine letzten Kraftreserven auf, um seine Schritt zu beschleunigen. Er beschliesst, seinen Weg fortzusetzen, ohne dabei auf diese unheimliche Frau zu achten. Sabine Wenger, eines der vielen Mitglieder seiner Selbsthilfegruppe, welche sich als Opfer von Sextätern bezeichnen. Auch er wurde sexuell missbraucht. Aber das ist schon lange her. Nicht der Rede wert.
Als er sich endlich sicher fühlt, tauchen plötzlich Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Sie erscheinen ihm so vertraut. Und dennoch beängstigen sie ihn, weil er weiss, dass sie zu ihm gehören. Zu seinem Leben. Er will das immer noch nicht wahrhaben. Dieses feingliedrige Mädchen mit den dunklen Augen erscheint ihm so lebensecht, dass er das Gefühl hat, sie würde direkt auf ihn zuschweben.
«Nein!», keucht er mit heiserer Stimme.
Nur knapp erreicht er die Bahn in der Unterführung. Obwohl er schon längstens seine Kraftreserven aufgebraucht hat, setzt er seinen Weg fort. Als er spürt, wie sich das öffentliche Verkehrsmittel in Bewegung setzt, erkennt er sie wieder. Das Mädchen! Nein! Das Mädchen verändert ihre Gestalt. Es ist Sabine Wenger, die etwa zehn Meter von ihm inmitten der Menschenmenge steht. Sie wirkt bedrohlich. Er schluckt leer, als sich ihre Blicke begegnen.
«Ist schon klar! Sie geht ja zur Selbsthilfegruppe. Wir haben denselben Weg. Kein Grund zur Panik!».
Er versucht diese Situation zu verharmlosen. Aber es gelingt ihm nicht wirklich. Seine Panik umgibt ihn wie ein Vakuum. Er rührt sich nicht von der Stelle. Er starrt sie an. Sie starrt ihn an. Albert erreicht endlich sein Zielort, die Station, wo er aussteigen muss. Er setzt sich in Bewegung und folgt dem Menschenstrom. Obwohl er sie nicht mehr sieht, kann er ihre Gegenwart spüren. Seine Schritte verlangsamen sich. Etwas hindert ihn daran, normal zu gehen. Sein Körper scheint von einer fremden Kraft gelähmt zu werden…

  
 Die Bücher 
 Die Arena 
 Kontakt