Juraj Jascur

Der Damm der Gefühle

«Hiermit erteilen wir ihnen das Ehrenabzeichen für besondere Verdienste! Dank ihrer Intelligenz, Entschlossenheit und Mutes haben sie uns wertvolle Informationen geliefert, die uns dabei behilflich sein werden, den Nationalpark zu besetzen…».
Der Hauptmann, Horst Lange, redet noch weitere zehn Minuten. Er hebt die Qualitäten von mir, Jérome Fournier, dem Franzosen, hervor. Er stellt mich aufs Podest, indem er mich als einen waschechten Arier bezeichnet. Ich stehe immer noch kerzengerade vor dem Hauptmann, als ob ich ein Baum wäre, dessen Wurzeln mit der Erde für immer und ewig festgebunden wären. Vor ein paar Tagen erst kehre ich zum Stützpunkt zurück. Man empfängt mich wie einen Helden. Dabei habe ich die letzten Tage nur damit verbracht, über dieses hübsche Mädchen nachzusinnen. Ich bin schon kurz davor, mich den Feinden zu nähern, nur um sie wieder zu sehen. Es ist fast wieder so wie damals, als ich von den Dreien besessen bin.
Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass sie mich endlich abgelöst haben. Die anderen erledigen den Rest, was immer das sein mag. Ich will es lieber nicht wissen…
Doch es lässt sich nicht umgehen, dass ich von der Okkupation von Białowieża, im Jahre neunzehnhunderteinundvierzig erfahre. Ich bin irgendwo in der französischen Provence stationiert, wo alles etwas gemächlicher zugeht. Ich habe mehr Zeit als mir lieb ist. Umgeben von ländlicher Idylle, bildhübschen Bauernmädchen, Kühen und romantischen Bäckereien versuche ich mich wie all die anderen Soldaten den einfachen Freuden des Lebens zuzuwenden.
Doch ich schaffe das nicht. Ich finde nicht einmal bei meinen neuen Kameraden den Anschluss. Ich vermisse meine alte Einheit, die aus abtrünnigen Intellektuellen besteht. Ich sehne mich nach der Zeit zurück, als wir über Gott und die Welt fachsimpeln, uns in Białowieża in einer Geheimsprache verständigen und wir uns gegenseitig das Gefühl von Gemeinschaft, Ehre und Wichtigkeit vermitteln.
Hier bin ich wieder der Aussenseiter, der von den anderen Soldaten nur belächelt wird. Meine neuen Kameraden sind von ganz anderem Schlag. Sie halten nicht viel von Büchern oder tief schürfenden Diskussionen. Mit ihren derben Sprüchen, wilden Siegesparolen und ihrem selbst verherrlichenden Getue erinnern sie mich wieder daran, wo ich mich befinde.
Das neue tausendjährige Reich entfaltet sich, gedeiht und wächst ins Unermessliche. Genauso hat es Hitler prophezeit. Dänemark, Norwegen, Belgien, Niederlande, Luxemburg, der Grossteil Frankreichs, Jugoslawien und Griechenlands sind bereits erobert und besetzt. Das deutsche Reich ist nicht zu bremsen. Ich bin mitten drin, ein Gefangener in einem neuen System, in einem gigantischen System…
Wir sind wieder einmal auf Patrouille. Wir machen Jagd auf «Hasen». So nennt man all diejenigen, die es aus Sicht der arischen Elitegesellschaft nicht verdienen zu leben. Ich bin einer von den «Guten». Doch ich weiss es besser. Ich kann es in den Augen der französischen Zivilisten ablesen, dass wir verabscheuungswürdig sind. Ich mache mir schon lange nichts mehr vor. Von wegen, ein Opfer des Systems! Ich habe nur keine Eier, um zu meinen Ansichten zu stehen! Ich ziehe es vor, mich der Obrigkeit zu beugen, auf jedes ihrer Befehle mit «Ja!» und «Amen!» zu antworten und ihren verderblichen Wünschen gerecht zu werden. Da marschiere ich in meiner schicken Uniform. Das Hakenkreuz ist nicht zu übersehen. Ich gehöre zu den «Jägern», den «Übermenschen» und den «Aufräumer».
«Pow!».
Ein riesiger Knall, gefolgt von einer gewaltigen Druckwelle, lässt meine Kameraden wie winzige Insekten auf den Boden platt wälzen. Nur ich stehe noch da, wie ein Fels in der Brandung. Es ist nicht Mut, Unerschrockenheit oder nur Panik, das mich regungslos dastehen lässt, als ob mich der Verstand verlassen hätte! Nein! Ich bin traurig und erleichtert zugleich. Ich fühle mich wie vor dem jüngsten Gericht, um die gerechte Strafe zu bekommen.
«Rückzuuuuuug! Rückzuuuuuug! …».
Unser Anführer, der einst als Primarlehrer arbeitet und jetzt ein überzeugtes Mitglied der NSDAP ist, schreit um sein Überleben.
«Wer ihm folgt, begibt sich in Sicherheit, wer ihm nicht folgt, ist des Todes!», schiesst es durch meinen Schädel.
Das ist auf jeden Fall seine Überzeugung. Ich stehe noch immer da. Ich höre Stimmen. Sie reden französisch. Ob ich sie verstehen kann? Selbstverständlich tu ich das! Ich verstehe jedes einzelne Wort! Ich bin ja schliesslich Franzose!
«Die Falle schnappt zu, Guignol! Die Falle schnappt zu, Guignol!».
«Guignol!».
Ja, ja, dieser Name ist mir ein Begriff. Eigentlich ist es kein Name, sondern vielmehr eine Bezeichnung für einen komischen Helden des französischen Puppenspiels. Er entspricht dem deutschen Kasper. Plötzlich überschlagen sich meine Gefühle. Ich fühle mich in der Zeit um Dreijahrzehnte zurückkatapultiert…
Ich bin wieder vier Jahre alt, sitze mit meinem Vater in einem kleinen Puppentheater in einem kleinbürgerlichen Viertel von Paris. Ich bin freudig aufgeregt! Meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem komischen Helden mit seinem schelmischen Gesichtsausdruck.
Damals im Jahre neunzehnhundertelf bin ich überwältigt. Zum ersten Mal soll ich die wahre Bedeutung von Tragikcomic erkennen. Das ist nicht das erste Mal, dass mich mein Vater zu einer Veranstaltung wie dieser hier mitgenommen hat. Doch niemals zuvor habe ich die wahre Bedeutung des komischen Helden verstanden. Zuerst starre ich einfach nur wie gebannt auf die dümmlichen Opfer, die Guignol auf die Schippe nimmt. Langsam aber sicher entwickelt sich etwas in mir. Es fühlt sich magisch an, so als ob ein Riss mitten in meiner verkrampften Seele entsteht. Ich bin schon damals ein sehr ernstes Kind. Statt mit anderen Kindern draussen zu spielen, verkrieche ich mich lieber hinter meinen Büchern. Ich habe noch nie gelacht. Ich habe mich bislang überhaupt keinem Gefühl hingegeben. Ich scheine innerlich wie tot zu sein.
All der Schmerz, den sich im Laufe meines vierjährigen Lebens aufgestaut und zu einer undurchdringlichen Mauer erhärtet hat, schmilzt nun dahin. Freude hat bisher keine Möglichkeit gehabt, diese Mauer zu durchbrechen. Oh nein! Es muss ein Guignol sein, der mir die Tragik des Lebens auf groteske und belustigende Weise darstellt. Ich beginne einfach loszulachen. Am Anfang ist es nur ein schüchternes Lachen. Doch mein Lachen wird stärker und stärker.
Mein Körper schüttelt sich krampfartig. Ich kann nicht mehr aufhören zu lachen. Der Schmerz wird unerträglich. Mein Vater trägt mich hinaus. Ich will nicht hinaus. Ich will mir das verrückte Schauspiel zu Ende ansehen. Doch ich kann mich nicht beruhigen. Ein Arzt eilt herbei, der zufälligerweise mit seiner Familie ebenfalls Guignol in seiner ganzen schelmischen Pracht erlebt hat. Er öffnet sein Köfferchen, das er immer dabei hat. Ich starre auf die Spritze, die er herausholt. Mein Körper verkrampft sich noch mehr und ich kann nicht aufhören zu lachen. Ich hat jetzt Angst! Ich bin hysterisch und ich habe Angst! Ich kann nicht aufhören zu lachen. Sanft, aber unnachgiebig, dringt das spitzige Metall in mein Fleisch. Ich beruhige mich schneller als mir lieb ist. Denn ich habe noch nicht genug. Ich will mich bis in aller Ewigkeit dem Rausch der Tragikcomic hingeben. Was danach geschieht, weiss ich nicht mehr…
«Hey, kümmert euch um die anderen Nazischweine! Falls sie noch leben! Wir beide kümmern uns um den da! Vielleicht hat er uns ja was mitzuteilen, Guignol!».
Ich stehe da und höre alles überdeutlich. Die Sätze sind glasklar. Noch niemals zuvor empfinde ich die französische Sprache als so ästhetisch wie in diesem Augenblick. Gerade in einer Zeit, wo ich mich als Gefangener in einem Riesenstaat von all den Reizen des Lebens getrennt fühle, die mit meiner Herkunft zu tun haben, erscheint mir dieser Moment so befreiend und erhebend zugleich. Meine wahren Freunde, die Franzosen, kommen, um mich aus diesem riesigen Gefängnis zu befreien. Denn alleine fehlt mir der Mut dazu.
Da kommt er, mein geliebter Guignol, wie er leibt und lebt! Er ist nur viel grösser und breiter. Aber sein Gesicht erkenne ich wieder! Es ist dasselbe schelmische Grinsen, das mich damals so überwältigt hat! Er kommt direkt auf mich zu. Er kommt näher und näher! Ich warte! Ohne Vorwarnung schmettert der Zweimetermann mehrmals hintereinander seine Riesenfaust direkt in mein Gesicht. Meine Knochen brechen wie morsches Holz. Ich kann es fühlen, ich kann es riechen. Ich verliere nicht das Bewusstsein. Ich erlebe jeden Augenblick im vollen Bewusstsein. Ich fühle mich wieder in der Zeit um Dreijahrzehnte zurückkatapultiert. Da! Ich kann es fühlen. Es ist wie ein Vibrieren in meinem Schädel. Der Damm, der sich in all den Dreissig Jahren aufgestaut hat, droht ein zweites Mal zu brechen.
Knochensplitter, die einst meine Nase aufrechterhalten haben, sammeln sich in meinem weichen Gaumen an. Ich nehme den Geschmack des Blutes wahr. Das kratzende Gefühl der Knochensplitter in meinem Gaumen ist einfach überwältigend. Ich wage nicht das Blut auszuspucken, weil ich meine Retter auf gar keinen Fall beschmutzen möchte. Ich schlucke das Blut einfach herunter. Einige Splitter werden dabei mitgerissen und stürzen unweigerlich in meinem Schlund.
Guignol, ein Ausbund von Männlichkeit, der in meinen Augen wie ein Held strahlt! Man nennt ihn nicht umsonst, «Guignol!». Er spricht mich auf Deutsch an und rollt dabei auf sehr gekonnte Weise das «R», genauso wie Hitler! Dabei verschwindet niemals sein schelmisches Grinsen. Ich versuche erst gar nicht gegen meine Gefühle, die immer stärker werden, anzukämpfen. Anfangs kichere ich wie ein Wahnsinniger. Doch schon nach wenigen Sekunden wird mein eigener Körper von einem wilden Lachen durchgeschüttelt. Ein zweites Mal überwältigt mich die Tragikcomic. Doch dieses Mal erlebe ich sogar eine Steigerung im Gegensatz zu damals vor dreissig Jahren. Ich bin ein Teil dieser grotesken Szenerie. Ich bin der Böse, der Antiheld, der von Guignol, dem komischen Helden auf die Schippe genommen wird.
Ich kann das Klatschen von Kinderhänden hören. Ich höre ihr Gekreische. Die Szene ist ja auch zum Schreien komisch. Ein Franzose lässt sein Heimatland im Stich und stellt sich auf die Seite seiner Feinde. Natürlich erhält er die gerechte Strafe! Was sonst? Dabei spielt der Humor eine gewaltige Rolle. Plötzlich beginne ich auf Französisch drauflos zu schwatzen, weil ich sonst den Verstand verliere. Ich lalle nicht einfach, obwohl es sich wegen meines unaufhörlichen Lachens so anhört. Meine Worte reihen sich wie von selbst aneinander.
«Schlagt mich, foltert mich und tötet mich! Ich bin einer von euch, aber ich habe euch im Stich gelassen! Ich verrate euch gleich noch, wo meine Eltern leben! Denn die sind Schuld! Jawohl! Die sind an allem Schuld. Ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha!».
Es kostet all meine Kraftreserven, um ihnen meine Identität, meine Herkunft und die geheimen Stützpunkte der Deutschen in Frankreich mitzuteilen. Ich scheine in meinem eigenen Blut zu ertrinken! Beim Reden gurgle ich wie ein Ertrinkender! Sie hören mir zu. Guignol macht wie immer seine Späße. Sein Gesicht belustigt mich. Doch ich verliere nicht die Kontrolle so wie damals, als ich vier Jahre alt bin. Sie lassen mich gehen! Sie lassen mich gehen! Einfach so! Warum haben sie mich verschont. Ich bin doch ihr Feind, ein Arier, ein Mitglied des Todbringenden Dämons!
Blutüberströmt torkle ich durch die verträumten französischen Gassen. Nur widerwillig bewege ich mich in Richtung der Kaserne, wo ich offiziell dazugehöre. Man vermisst mich bestimmt schon, aber nicht wie einen Freund oder Menschen, sondern wie einen Gegenstand auf der Inventarliste. Ich hoffe inständig, dass ich wieder von ein paar Franzosen überrascht werde. Ach Gott, wie ich diese Franzosen liebe! Doch früher als mir lieb ist, erreiche ich die Kaserne, inmitten einer Lichtung, gut getarnt hinter Dornsträuchern, inmitten eines dunklen Waldes. Diese Kaserne kommt mir wie eine unheimliche Märchenwelt des Bösen vor. Doch ich habe auch ihren Standort preisgegeben. Ich werde mich sofort an meine Vorgesetzten wenden, um sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich ein Verräter bin. Ich will nie mehr mit einem Geheimnis leben. Nie mehr!
Doch es kommt alles ganz anders als erwartet. Sofort, als man mich erblickt, eilt man mir herbei. Sogar die hart gesottenen Männer, die mich von Anfang an abgelehnt haben, kümmern sich nun rührselig um mich. In ihren Augen bin ich doch ein Gottverdammter Kamerad! So leid mir das tut, aber das entspricht der Tatsache.
«Ich habe unseren Standort verraten!», gurgle ich verzweifelt.
Es interessiert sie nicht! Ich wiederhole es immer wieder! Sogar noch im Sanitätszelt, wo man mich verarztet, wiederhole ich meinen Satz:
«Ich habe unseren Standort verraten!».
Noch in derselben Stunde werde ich in ein Lazarett, nur einige Kilometer von hier entfernt, gebracht. Ich habe Glück! Ein Gesichtschirurg, ein Spezialist, ja mehr noch, eine Koryphäe auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie, nimmt sich meiner an. Fachwissen, jahrzehntelange Erfahrung und tiefe Leidenschaft lässt er in seine Arbeit hineinfließen. Er ist mehr als ein Arzt, er ist ein Künstler, der ein Werk vollbringt. Er schafft ein Kunstwerk. Er lässt mein zerstörtes Antlitz wieder in seiner vollen Grösse glänzen. Ja mehr noch! Er verpasst meiner Nase einen arischen Touch, bringt mein Kinn, das in Original eher gewölbt ist voll zur Geltung und sorgt dafür, dass mein Jochbein nicht so deutlich unter meiner straffen Gesichtshaut hervorsticht.
Ich bleibe im Spital. Mein Gesicht bleibt für die nächsten Wochen verbunden. Mir ist schon lange nicht mehr zum lachen zumute. Als ich mich dann endlich von der Meisterleistung meines künstlerischen Retters überzeugen kann, schlucke ich nur leer. Ich starre geschockt in den Spiegel. Das ist nicht mein Gesicht! Meiner Nase fehlt der Höcker, der mir so vertraut ist. Mein Gesicht ist hübscher, geformter, wie in Stein gemeißelt. Das bin nicht ich!
«Mensch Junge! Du bist wieder wie neu!», versucht man mich aufzumuntern.
«Neu!», ist der perfekte Ausdruck für mein Aussehen. Ich bin mehr als wiederhergestellt. Ich bin das Produkt einer arischen Neukreation. Niemand anders scheint das aufzufallen, nur mir allein! Das liegt wohl daran, dass Professor Doktor Anton Hübler ein Genie ist. Er hat etwas Neues erschaffen, aber dafür gesorgt, dass die Grundzüge meines Gesichtes gleich bleiben. Fürwahr! Ich kann nicht umhin, als mir einzugestehen, dass das immer noch Jérome Fournier ist, der mich da im Spiegel anstarrt, halt eben schöner und männlicher!
Mir ist schon lange nicht mehr zum Lachen zumute. Ich habe wieder damit begonnen, meine Gefühle aufzustauen!
Weit weg vom kriegerischen Getöse erfülle ich meinen Kriegsdienst in einem Militärlager mitten in Deutschland. Zusammen mit anderen Kriegsmüden Männern und vielen Frauen nähe und sortiere ich Uniforme. Für mich ist es eine Arbeit wie jede andere. Es gibt vieles Neues zum Lernen. Ich, der in meinem ganzen Leben noch nie genäht habe, entwickle mich in wenigen Wochen zu einem routinierten Näher. Das überrascht mich nicht. Ich habe schon vieles in meinem Leben neu erlernen müssen. Ich bin in meinem Element. Die folgenden Jahre verbringe ich damit, dass ich Uniformen nähe. Dabei schweige ich die meiste Zeit. Meine Kommunikation reduziert sich auf den Austausch von Informationen. Aufgrund meiner Geschicklichkeit werde ich bald schon zum Teamleiter befördert. Nun unterstehen mir mehr als zehn Leute, die meinen Anweisungen zu gehorchen haben.
Gelegentlich treffe ich mich mit anderen Teamleitern. Dabei schweige ich ebenfalls die meiste Zeit. Doch ich bin stets präsent. Das kann man in meinem Gesichtsaudruck erkennen. Meine grosse Befürchtung, dass mich das gigantische Reich für immer und ewig verschluckt hätte, stellt sich als Irrtum heraus. Alle haben sich geirrt, wir alle, wieder einmal. Die Deutschen verlieren ein zweites Mal. Nach einer überwältigenden Niederlage, die sich in Wut, Trauer und Resignation äussert, wandelt sich auf einmal das Gesicht des deutschen Volkes. Es ist unglaublich! Als hätte es die Nazis niemals gegeben, erblühen die Menschen in alter Frische. Mit neuem Schwung vereinen sich Alt und Jung, Gebildet und Ungebildet. In vereinten Kräften wird das alte Deutschland, das nur noch einem Trümmerhaufen gleicht aufgebaut.
Vergeblich suche ich nach Anhaltspunkten, um das Tier, den dunklen Dämon wieder auszumachen. Hat er sich zurückgezogen? Aber nein, da ist er ja! Oh Gott, oh Gott! Noch ehe ich mich habe der Illusion hingeben können, dass es sich für immer in seinem Loch verkrochen hätte, erkenne ich es wieder. Ein flüchtiger Blick genügt, um seine widerliche Schwanzspitze zu erkennen. Sein Gesicht hat sich gewandelt, aber mir kann es nichts vormachen. Denn ich habe schon lange aufgehört, mir etwas vorzumachen. Ich begehe erneut denselben Fehler und versuche es zu ignorieren, so wie damals, als die «Braunen» sich noch in den Kellern verstecken.
Während ich und viele andere damit beschäftigt sind, uns eine neue Existenz aufzubauen, bahnt sich das Böse wieder einen Weg zu uns. Ich bin gleichgültiger denn je. Denn meine Sinne scheinen immer noch augrund dumpfer Trauer benebelt zu sein. Doch wie das so ist im Leben, renkt sich dann alles im Leben wie von selbst ein, wenn man es am wenigsten erwartet. Ehe ich es mir versehe, finde ich einen Job in einer Bibliothek und eine kleine Wohnung, in der ich noch heute lebe…
Es herrscht Totenstille in meiner Wohnung. David, Hans und Melanie starren mich stumm an. Ich, der sein ganzes Leben lang nur geschwiegen hat, schreie, tobe, zetere und zeige mit meinem Finger auf sie. Ich verurteile die beiden Männer, die Melanie geistig und körperlich misshandelt haben, mich zu einem heimlichen Verbündeten des Grausamen, Perversen und Verführerischen gemacht haben und es wagen, über ihr Leid zu klagen. Mein schönes Gesicht ist nicht wieder zu erkennen. Der Damm meiner Gefühle ist ein drittes Mal aufgebrochen. Es fliesst es mir aus, bis ich mich wieder leer fühle, wie vor neununddreißig und vor neun Jahren.

  
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