Juraj Jascur

Das Kind in der Frau

Einleitung

Die Passanten bekommen nur ein Stückchen des Imperiums des ehemaligen nigerianischen Immigranten zu Gesicht. Inmitten von New York frisst sich der Megakomplex von einem Kaufhausgebäude wie ein Geschwür durch Meterdicke Betonschicht, schlängelt sich durch Kanalisationen und schiesst ganz unerwartet über hundert Meter in die Höhe. Seine hochmodernen Sicherheitsanlagen sorgen dafür, dass es sich um 24 Uhr schliesst und um 5 Uhr morgens wieder öffnet. Wer nicht rechtzeitig den Laden verlässt, muss sich wohl oder übel darauf einstellen, die Nacht in diesem Riesengefängnis zu verbringen. Die Aussicht vor 5 Uhr wieder befreit zu werden ist gleich Null. Man muss schon ein genialer Hacker sein, um dieses elektronische Verschaltungssystem zu durchschauen. Wie es der Zufall will, befinden sich tatsächlich zwei Menschen zur völlig falschen Zeit in diesem Gebäude…

Licht im Dunkeln

Das 5492te Mal

«Hallo!».
Claudia dreht sich abrupt nach dem tiefen wohlklingenden Bass um. Sie erblickt eine grosse, attraktive Gestalt eines Mannes in Anzug. Sein Gesicht erinnert sie an die gut aussehenden männlichen Models in den Modezeitschriften. Statt ihm zu antworten, senkt sie betroffen ihren Blick, so als ob sie befürchte, dass sie ihn belästigen könnte. Der Mann seufzt plötzlich und zuckt mit seinen Achseln.
«Dir ergeht es wohl ähnlich wie mir. Auf der hilflosen Suche nach draussen!».
Er schenkt ihr das charmanteste Lächeln, das sie sich vorstellen kann. Aus Höflichkeit zwingt sie sich dazu, ihm in die Augen zu blicken. Sie wagt es nicht sich vom Fleck zu rühren. Sie erstarrt innerlich, als sich der Unbekannte mit gemächlichen Schritten zu ihr bewegt. Er hält vor ihr an und streckt ihr seine Hand entgegen. Alles erscheint ihr wie im Zeitlupentempo.
«Ich heisse Fernandez Mendez.».
Als sie erneut den vibrierenden Klang seiner Stimme vernimmt, huscht ihr Blick nach unten – auf seine Beine, deren Muskeln sich unter dem teueren Seidenstoff deutlich abzeichnen. Sie spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
«Claudia – Claudia Dabrowski», schiesst es aus ihr mit zittriger Stimme heraus.
Sie spürt immer noch seine kräftigen Finger, die wie Schlangen ihre Hand umschliessen. Als er sie loslässt, lauscht sie wie gebannt seinen Worten. Nebenbei erfährt sie, dass er sie vom Sehen her kennt. Er hat sie desöftern beobachtet, wie sie zusammen mit einer Armee hundert anderer Putzkräfte hier die Flure und Treppen reinigt. Sie versucht erst gar nicht, sich mit ihm auf ein Gespräch einzulassen. Sie ist gewohnt, dass die anderen reden und sie schweigt.
Die beiden beginnen die Anlage zu erkunden, in der Hoffnung, doch noch einen Ausgang zu finden. Fernandez übernimmt die Führung. Sie folgt ihm unsicheren Schrittes. Nach einer Weile muss sich der elegante Mann eingestehen, dass er am Ende mit seinem Latein ist.
«Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden, dass wir gefangen sind. Zumindest bis morgens fünf Uhr.»…

Fernandez entgeht nicht, wie sie trotzig ihren Unterkiefer nach vorne schiebt und ihre Stirn in Falten legt. Ihre Bitterkeit ist nicht zu übersehen. Tausend Gedanken schiessen durch ihren Schädel. Die Tatsache, dass sie heute ihren wohlverdienten Ausgang verpasst, schmerzt sie zutiefst.
«Man müsste das elektronische Sicherheitsnetz studieren, um den richtigen Code zu finden.», seufzt er und schmunzelt gelassen.
Er ahnt nicht, was sich gerade in diesem Augenblick hinter der dümmlich wirkenden Fassade dieser weiblichen Schönheit abspielt…Ohne es zu wollen, hat er mit dieser beiläufigen Bemerkung etwas in Claudia ausgelöst. Die Worte «elektronische Sicherheitsnetz» und «Code», schwingen fordernd vor ihrem geistigen Auge. Die Frau, die sich noch vor wenigen Augenblicken der Situation hilflos ausgeliefert gefühlt hat, wird von einer nie da gewesenen Kraft angetrieben.
Wie von fremder Macht gesteuert, geht sie mit energischen Schritten auf die Rolltreppen zu, die sie hinauf zu der Buchabteilung führen.
«Ja, genau das ist es! Das ist es! Ich finde den Code für hier nach draussen! Den Code! Den Code!», murmelt sie mit mechanischer Stimme.
Fernandez weiss nicht, ob er sich durch ihr Verhalten gerührt oder belustigt fühlen soll. Mit einem Lächeln im Gesicht folgt er ihr schweigend. Endlich erreichen sie die Buchhandlungsabteilung. Wie ein Schlauch schiesst dieser Teilbereich des Kaufladens bogenförmig aus dem Festland heraus, teilt sich im höchsten Punkt, 101 Meter über dem East River. Die beiden Röhren enden wie zwei Arme auf der anderen Seite in Manhattan und Bronx.
Etwas ratlos starrt Fernandez auf die vielen Bücher. Diese gigantische Weite lässt ihn innerlich taumeln. Er ist zu überwältigt, um sich zu bewegen. Der sonst stets zielorientierte Mann beobachtet, wie die Frau in Putzuniform auf ein unsichtbares Ziel steuert. Er sieht nicht, was sie sieht…

Claudia folgt einem inneren Programm, der ihr selbst fremd erscheint. Bilder tauchen wie Signale vor ihrem geistigen Auge auf. Sie folgt ihnen einfach, ohne sie zu hinterfragen. Sie hat noch nicht realisiert, dass sie ihrem eigenen Verstand entspringen. In den folgenden dreieinhalb Stunden rast sie von einem Ort zum nächsten. Sie fängt mit der Elektronik an, geht dann zu Informatik über, dann Mathematik, Chemie, Physik, kehrt dann wieder zur elektronischen Abteilung zurück und besucht rasch die Abteilung von Biographien berühmter Persönlichkeiten, wo sie per Zufall auf den Neurotiker, Olabukonola Obasanjo stösst, dem Gründer dieses Kaufhauses hier. «OLA-OBA», murmelt sie vor sich hin. Erst jetzt begreift sie, dass «OLA» und «OBA» die Anfangskürzel seines Vor- und Nachnamens bilden.
Plötzlich verfällt sie in eine Art Trance. Wie so oft in ihrem Leben verliert sie sich in eines ihrer Tagträume. Die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens ziehen wie in einem Zeitraffer an ihr vorbei…
Sie hat aufgehört zu zählen, wie viele Male sie auf die purpurviolette Aufschrift starrt, bevor sie das Gebäude betritt, um ihre Pflicht als Putzfrau zu erfüllen. Diese Buchstaben haben eine hypnotische Wirkung auf sie. Liegt es an ihrer Farbe oder am Klang des Namens. An jedem verdammten Tag murmelt sie «OLA-OBA». 5491 Mal «OLA-OBA»…
Aber heute, Freitag, den 20. Januar 2045, spricht sie diesen Namen das 5492te Mal in vollem Bewusstsein aus, als ob sie ihn zum ersten Mal mit ihren Sinnen erfassen würde. Sie sieht die Farbe dieser Buchstaben. Hört deren Schwingung. Schmeckt jedes einzelne ihrer Partikel. Sie braucht nur ihre Augen zu schliessen, um die Stadt zu riechen, in dem der inzwischen 95 jährige immer noch lebende und arbeitende Milliardär aufgewachsen ist. Im Geiste macht sie eine Zeitreise bis ins Jahr 1950, 19. Juli, als ein schwarzer Junge das Licht der Welt erblickt…

Die Perspektive von Olabukonola Obasanjo, der in einem Provinznest aufwächst, ist nicht viel versprechend. Als er mit achtzehn Jahren beschliesst nach New York auszuwandern, verliert er keinen weiteren Gedanken an sein Zuhause. «Nur weg von hier!», ist sein Leitsatz. Der Name «Abuja», die Hauptstadt von Nigeria, verkörpert für ihn all das, was er ein Leben lang zu meiden versucht hat. Seine innere Aversion auf seine Landsleute, die Mentalität in seiner Heimatstadt und ihre Kultur, treibt ihn in die weite Ferne. Bei seiner Geburt zählt Abuja eine Einwohnerzahl von etwa 19'000. Als er emigriert sind es fast 50'000. Aber das kümmert ihn nicht. Jetzt, wo der Greis auf die Hundert zugeht, kümmert es ihn auch nicht, dass in Abuja inzwischen 10, 4 Millionen Menschen wohnen. Solange er noch aktiv sein Unternehmen leiten und kontrollieren kann, ist alles gut…

Claudia presst ihre Lippen zusammen und rekapituliert nochmals in ihrem fiebrigen Gehirn alle Daten, um sich zu vergewissern, dass sie nichts ausgelassen hat. Ihre Augen leuchten. Der ganze Komplex, «OLA-OBA», tut sich wie ein Film vor ihrem geistigen Auge auf. Von seiner Entstehungsgeschichte am 13. März 2029 bis heute überblickt sie das gesamte Gebäude in seiner dreidimensionalen Vielfalt, ohne dabei auch nur die kleinste Schraube ausser Acht zu lassen.
Plötzlich erwacht sie aus ihrem kindlichen Rausch und starrt auf die männliche Gestalt, die es sich auf einem Lesetisch in der Nähe eines riesigen Fensters gemütlich gemacht hat und gelassen in einem Buch blättert. Ihre Lippen beginnen sich zu kräuseln. Ihr Blick ist immer noch auf den Mann gerichtet, dem sie sich am liebsten mit Leib und Seele hingegeben hätte. Wieder schiessen Bilder wie Blitze durch ihr Gehirn. Die Daten von Olabukonola vermischen sich mit den Zahlen, Formel und Texten in den unzähligen Büchern über Elektronik, Informatik und weiteren Fachbüchern. Ein Code mit 15 Zeichen entsteht in ihrem Kopf. Die Unter-, und Unterunter- und Unterunterunter- etc., -codes, ordnen sich mühelos unter. Auf dem Weg zu ihm schreit sie aufgeregt.
«Ich hab den Code! Ich hab den Code! Ich hab den Code!»…

Fernandez blickt träge hoch. Ihn bringt so leicht nichts aus der Fassung. Bis jetzt ist er mit fast jeder Situation Schlag gekommen. Er legt seine Denkerstirn in Falten und beginnt mit seiner Blitzanalyse. Jetzt ist er davon überzeugt, Claudia mit all ihren Facetten durchschaut zu haben.
«Liebenswürdiger Freak mit einem Schuss kindlichem Grössenwahn, schizoiden Zügen und traumhafter Figur.».
Das ist seine nüchterne Zusammenfassung. Ein souveränes Lächeln huscht über seine Lippen, als die Frau mit ihrem gebärfreudigen Becken und ihrem mächtigen Vorbau direkt vor ihm anhält und ihn mit ihren himmelblauen unschuldigen Hundeaugen erwartungsvoll anblickt.
«Ich hab den Code!», wispert sie ein letztes Mal.
Fernandez, hart gesottener Anwalt, Lebemann und Secondo, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, fixiert sie mit seinem Blick solange, bis sie verunsichert ihr Haupt senkt. In diesem Moment wird ihm bewusst, dass er sich derselben Einschüchterungsmethodik bedient, wie sein Vater vor vielen Jahren bei ihm.
«Das ist ja erfreulich. Dann bringst du uns hier hinaus!», muntert er sie mit sanfter Stimme auf.
Es überrascht ihn nicht einmal, dass sie seinen Sarkasmus nicht herausgehört hat. Wie per Knopfdruck strahlt sie ihn mit offenen Augen an.
«Komm mit! Wir müssen zu einem Computer!».
Fernandez folgt ihrer Aufforderung ohne zu zögern. Jetzt erinnert sie ihn an ein euphorisches Kind, das ihm unbedingt etwas zeigen will. Er folgt ihr mit gemischten Gefühlen. Anfangs hat er sich von ihr beeindruckt gefühlt. Aber ihre rastlosen Wanderungen von einer Bildungsecke zur anderen haben ihn entmutigt. Allmählich sinkt seine Hoffnung, dass er etwas Besonderes in dieser Frau entdecken könnte.
Er ist davon überzeugt, dass er aus reiner Höflichkeit handelt. Er denkt, «Was habe ich zu verlieren!», als er sich von ihr zum erstbesten PC führen lässt. Er blinzelt innerlich belustigt, als sie stramm vor der Tastatur steht und mit ihren zwei Zeigefingern schwerfällig auf die Tasten schlägt.
«Du scheinst dir ja deiner Sache sehr sicher zu sein, Mädchen!».
Er hebt erstaunt seine Augenbrauen hoch, weil er damit gerechnet hat, dass sie auf seine Bemerkung reagieren würde. Doch sie würdigt ihn keines Blickes. Sie ist hoch konzentriert. Er beobachtet sie. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. Nach einer Weile wirft er einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm. Er kann es nicht glauben. Zeichen tauchen auf, ändern sich, verschwinden wieder, ganze Graphiken bauen sich auf, um wieder neuen Formeln, statistischen Balken und Kurven Platz zu machen. Sie scheinen in keiner Weise mit ihren ungeübten Fingerbewegungen im Zusammenhang zu stehen. Dennoch sieht er sich gezwungen anzuerkennen, dass sie allein, den Computer bedient. Wie sie sich überhaupt eingeloggt hat, bleibt ihm ein Rätsel. Dass sie etwas mit diesen komplexen Daten zu tun haben könnte, erscheint ihm wie das achte Weltwunder. Plötzlich vernimmt der Mann, der sich noch vor wenigen Minuten ihr gegenüber überlegen gefühlt hat, eine unschuldige kindliche Stimme.
«Wir haben nur 15 Minuten Zeit. Wir müssen uns beeilen!».
Sie rennt in Richtung des Ganges, der zum Festland führt. Er folgt ihr und versucht sein Herzrasen zu ignorieren. Doch das Zittern in ihm wird stärker. So hat er sich das letzte Mal gefühlt, da war er ein Kind, das sich vergeblich vor den Schlägen seines Vaters zu schützen versucht.
Sie lassen die Bücherei hinter sich, durchqueren die Abteilung der Haushaltartikel und müssen all die zehn Stockwerke wieder nach unten rennen. Nach neun Minuten erreichen sie endlich eines der vielen Ausgänge. Ehe er es sich versieht, schieben sich die Glaswände auseinander. Claudia ist in ihrem Element. Sie packt den immer noch überwältigten Mann an der Hand und zerrt ihn nach draussen.
Die beiden starren sich einen Moment lang an, als ob sie sich das erste Mal gegenüberstünden. Der erfahrene Mann von Welt ist immer noch sprachlos. Er registriert, dass sie ihn sogar um ein paar Zentimeter überragt. Und das will was heissen. Er misst immerhin 183 cm. Sie strahlt ihn immer noch mit ihren blauen Augen an.
«Ich hab’s geschafft!», bemerkt sie plötzlich.
Beim monotonen Klang ihrer Stimme durchfährt ihn ein kalter Schauer. Er passt nicht zu ihrem offenen Wesen und ihrem Aussehen. Normalerweise würde er etwas darauf erwidern. Doch er bleibt stumm. Hohle Phrasen, wie «Du bist ein Genie und obendrein siehst du noch blendend aus! Du bist wohl ein entsandter Engel von Gott!», fallen ihm ein. Ohne Vorwarnung streckt sie ihm ihre Hand entgegen. Alles erscheint ihm jetzt wie im Zeitlupentempo. Ehe er es sich versieht, hat sie sich von ihm verabschiedet. Er starrt ihr eine Weile hinterher, so als ob er einer höheren Erscheinung begegnet wäre.

Realität oder Wirklichkeit

Fernandez sitzt in seinem teuren Sessel in seinem geräumigen Büro seiner eigenen Anwaltspraxis, die eher einer Luxussuite ähnelt. Er durchwühlt in Windeseilen die Akten eines hoch angesehenen Klienten. Jeder andere an seiner Stelle hätte sich mit dieser Aufgabe überfordert gefühlt. Die Menge an Daten und Vernetzungen scheint kein Normalsterblicher verarbeiten zu können. Fernandez Mendez, 45 Jahre alt, gebürtiger Mexikaner, aufgewachsen im schlimmsten Ghetto von New York und ehemaliger Bauarbeiter, Elektriker und Telekommunikationsexperte, mit Masterabschluss in der Informatik, im Maschinenbau und in den Rechtswissenschaften, mit drei Doktortiteln, stellt sich dieser Herausforderung, als ob es eine reine Routineangelegenheit wäre. Erst kürzlich hat er die deutsche Sprache studiert und in Deutschland die höchstrangige Hochschulprüfung erfolgreich bestanden. Seine wissenschaftlichen Arbeiten in Recht, Engineering, Logistik, Wirtschaft, Internet und virtueller Welt, sind weltweit Gegenstand von öffentlichen Diskussionen und Anregungen.
Als er sich sicher ist, dass er den Fall erfolgreich durchleuchtet hat, wartet er vergebens auf den sonst so erhellenden Moment. Er kommt nicht. Statt innere Zuversicht und Euphorie fühlt er bloss diese traurige Leere in seinem Innern. Er kratzt sich zwischen seinen Beinen. Wenn er dabei wenigstens so etwas wie leichte Erregung verspüren würde. Aber nichts! Die Vorstellung noch heute Abend auszugehen beunruhigt ihn eher, als dass sie ihn motiviert.
Er ist nicht mehr derselbe Kerl, der emotionell nichts an sich heranlässt, Frauen wie Freiwild betrachtet und dem Leben wie ein Leistungssportler begegnet. Claudia Dabrowski hat ihn zutiefst beeindruckt. Es sind erst einige Tage vergangen, seit sie ihm ihre Handynummer in die Hand gedrückt hat und sich dann wie ein Wesen aus einer fremden Welt in der Dunkelheit zurückgezogen hat. Insgeheim fragt er sich, warum sich die Erinnerung an ihr so echt anfühlt. Gleichzeitig irritiert ihm der Klang ihrer Stimme, überwältigt ihm ihr Aussehen und ihre aussergewöhnlichen Leistungen kann er nicht begreifen. Es übersteigt sein Fassungsvermögen. Er fühlt sich überfordert…

Claudia steht vor einer riesigen Bibliothek und starrt auf die renovierte Fassade. Jetzt will sie es wissen. Was ist damals mit ihr passiert? War das nur ein einmaliges Wunder? Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und wagt es endlich, die erste Stufe hinaufzugehen. Sie zittert innerlich, weil sie weiss, dass sie jeder Schritt näher zu der Wahrheit bringt. Entweder wird sie wie eine ahnungslose Ungebildete lustlos in ein Buch blättern, oder sie wird denselben Rausch erleben wie in dem Kaufhaus, «OLA-OBA».
Plötzlich vibriert ihr Handy. Sie zuckt zusammen. Hastig greift sie in ihrer Gesässtasche. Fast fällt ihr iPhone auf den harten Asphalt. Im letzten Moment schafft sie es, das Gerät gegen ihre Ohrmuschel zu drücken.
«H-hallo, Claudia Dabrowski…».
Als sie eine warme, sanfte, männliche Stimme vernimmt, verkrampft sich ihr Magen. Das Bild des hübschen Mannes in Anzug taucht vor ihrem geistigen Auge auf.
«…du kannst dich bestimmt noch erinnern. Fernandez, der Anwalt, der sich noch nicht bei dir dafür bedankt hat, dass du ihn befreit hast…».
Claudia runzelt verzweifelt ihre Stirn. Sie versteht den Sinn seiner Worte nicht. Was soll sie ihm erwidern? Muss sie überhaupt etwas sagen? Sie ist ratlos. Sie fühlt sich hilflos und beschämt.
«Hallo! Bist noch da?».
Wieder verkrampfen sich ihre Eingeweide bei dem Klang dieser Stimme. Sie muss wohl zu lange geschwiegen haben, schlussfolgert sie.
«Äh, ja…».
«Wie wäre es, wenn ich dich heute Abend zu einem Drink einlade! Wir treffen uns um 19 Uhr in der Blue Bar.».
«Ja natürlich! Unbedingt! Das wäre super!», schreit sie übereifrig.
«Okay! Bis dann!».
Irritiert starrt sie auf den Monitor ihres Handys. Seine drei letzten Worte haben so ganz anders, so abgebrüht geklungen. Allein die Vorstellung sich mit ihm zu verabreden, beschleunigt ihren Puls. So hat sie noch nie für einen Mann empfunden. Bislang hat sie die Männer nur dazu benutzt, sich abzureagieren. Um Männer kennen zu lernen, geht sie in die Disko. Das gehört für sie zum Wochenendritual. Die heissen Rhythmen stimulieren sie, bringen sie in Ekstase, bis sie all ihre Hemmungen fallen lässt, und sich den erstbesten Kerl für die Nacht aussucht.
Die gelegentlichen One-Night-Stände bedeuten ihr nichts. Trotzdem hungert sie jedes Mal danach, den Körper eines Mannes zu spüren. Es ist für sie wie eine Droge. Der Sex scheint der Höhepunkt jeder Woche zu sein. Von Montag bis Freitag fiebert sie nur auf diesen Moment hin. Es gibt Tage, wo sie leer ausgeht. Diesen Zustand erträgt sie nur sehr schwer. Sie weiss dann nicht, was schlimmer ist, nämlich ihre unstillbare Geilheit oder ihre Bitterkeit. Um ihrer ständigen Rastlosigkeit ein Ende zu setzen, hat sie sich immer wieder vorgenommen, sich auf eine feste Beziehung einzulassen.
Inzwischen ist sie 31 jährig. Bislang ist sie einer tieferen Bindung aus dem Weg gegangen. Sie erträgt den Gedanken nicht, sich jemandem zu öffnen. Sie dreht sich ein Leben lang im Kreis, hin und her gerissen von ihrer verfluchten Sexsucht und ihrer Bindungsphobie. Fast wäre sie soweit, sich mit ihrer höheren Wahrheit zu befassen. Stattdessen kehrt sie dem Eingang dieser Bildungsstätte den Rücken und eilt hastig nach Hause. Das vibrierende Gefühl zwischen ihren Beinen treibt sie wie ein Perpetuum Mobile an.
Vergessen ist ihr Erlebnis in jener Nacht in OLA-OBA. Das Bild des Gentlemans füllt übermächtig ihren Schädel. Er verdrängt all ihre anderen Gedanken. Flüchtig streift ihr Blick all die Strassen, Passanten, Lichtsignale, Verkehrszeuge und Geschäftsgebäude. Wie eine Maschine registriert sie jedes Detail, analysiert es und zieht blitzschnell ihre Schlüsse. Auf diese Weise erlebt sie ihre Umwelt. So tickt sie, seit sie denken kann. Dessen ist sie sich nicht einmal bewusst.
Als sie Zuhause ankommt, atmet sie erleichtert auf. Endlich fühlt sie sich geborgen. Ihr Puls verlangsamt sich. Sie reisst ihre Kleider vom Leibe und stellt sich vor dem Spiegel hin. Das ist ihr tägliches Ritual. Obwohl sie sich jedes Detail ihres Körpers eingeprägt hat, lässt sie keine Gelegenheit aus, sich einer detaillierten Prüfung zu unterziehen. Ihrem geübten Blick entgeht keine Veränderung. Jede Disproportion ihrer Körperteile untereinander vermerkt sie als Abweichung ihres Sollwertes.
Ihr wuchtiger Busen hat ihres Erachtens die perfekte Form. Er darf nicht grösser oder kleiner sein. Die Gefahr, dass er eines Tages erschlafft, muss sie in Erwägung ziehen. Sie hat sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie sie präventiv dagegen vorgehen kann. Dank ihres Aufenthaltes in der Buchabteilung in OLA-OBA hat sie ganz nebenbei wichtige Informationen aufgeschnappt, wie sie Cremen und Mitteln selbst herstellen kann, um ihren Körper noch intensiver zu pflegen.
Mit ihren Fingern betastet sie ihren Busen, um sicher zu gehen, dass er noch straff ist. Sie begutachtet ihren Hintern, ob seine Wölbung immer noch stromlinienförmig mit ihrer Wirbelsäule harmoniert. Ihre muskulösen, aber sehr weiblichen Schenkel passen perfekt zu ihrem breiten Becken. Das gilt auch für ihre Taille. Ihr Gesicht bereitet ihr gelegentlich Kopf zerbrechen. Es drückt nicht das aus, was sie in ihrem Innern empfindet. Schon als Kind hat sie es nicht geschafft, mit ihrer Mimik zu kommunizieren.
Aber heute Abend interessiert sie vor allem eines. Während sie mit ihren zittrigen Händen über ihren Körper gleitet, stellt sie sich vor, wie sie auf erotische Weise von Fernandez berührt wird. Seine tiefe Stimme erklingt wie eine verführerische Melodie im Hintergrund. Seine Lippen formen sich, um jede Stelle auf ihrer Haut zu küssen. Bewusst vermeidet sie es in ihre starre Mimik in ihrem Spiegel zu blicken.
18.36 Uhr verlässt sie ihre Wohnung. Sie kennt die Strassen, jede Gasse, jede Abzweigung und Abkürzung. In 23 Minuten erreicht sie ihr Ziel. Punkt 18.59 Uhr betritt sie die Blue Bar. Sie kämpft gegen ihre Ängste an, als sie sich durch den dichten Menschenstrom kämpft. Am liebsten hätte sie kehrt gemacht, um schleunigst nach Hause zu rennen. Doch sie überwindet sich. Sie steuert direkt auf die Theke zu, wo fleissige Barkeeper und Barkeeperinnen in hautengen Leggings die Gäste bedienen. Ob Mann oder Frau, sie alle kommen auf ihre Kosten, was den Genuss dieser exotischen Getränke und den erotischen Blickfang des Personals anbelangt.
Insgeheim fragt sich Claudia, wie sie Fernandez in dieser Menschenmenge findet. Hilflos blickt sie um sich. Voller Entsetzen entdeckt sie noch andere Theken. Die Aussicht, Fernandez zu finden, verringert sich für sie. Als sie die nackten Oberkörper der Barkeeper beobachtet, beruhigt sie sich. Ihre innere Unruhe löst sich auf und weicht einem neuen Gefühl, das ihr vertraut ist. Ihre Jagd nach Männern hat begonnen.
Wie ein Scanner durchforstet sie mit ihrem Blick den gigantischen Raum. Nichts und niemand entgeht ihr. Sie ist in ihrem Element. Da! Sie entdeckt Fernandez. Er sucht sie. Das erkennt sie in seinen weit aufgerissenen Augen. Aus der Distanz erscheint er ihr wie eine hilflose Beute. Sie könnte ihn noch eine ganze Weile so zappeln lassen. Doch sie hat so ihre Prinzipien. Wenn sie sich mit jemand verabredet hat, dann hält sie sich strikt an die einfache Regel, die besagt, dass sie niemanden versetzen darf.
Sie nähert sich ihm mit schwungvollen Schritten. Noch hat er sie nicht bemerkt. Sie schiebt die anderen Gäste beiseite, als ob sie leicht wie Luftballons wären. Als sie dicht hinter ihm steht, weiten sich ihre Nasenflügel, wie bei einem Tier. Sie riecht sein dezentes Parfüm, das sich mit seinem frischen Schweiss vermischt. Mit ihren Augen wandert sie hinunter zu seinem Gesäss. Sie fühlt sich mächtig. Sie hat die Kontrolle. Das steigert ihre Geilheit. Sie ist im Begriff im sanft auf seine Schulter zu tippen…

Fernandez hat seine Dummheit erkannt. Er fragt sich verzweifelt, wie er sich mit Claudia an einem so belebten Ort verabreden kann, ohne einen exakteren Treffpunkt zu bestimmen. Da spürt er plötzlich, wie ihn jemand von hinten berührt. Er dreht sich um und blickt erleichtert in zwei strahlend blaue Augen.
«Eins zu Null für dich! Du hast mich als erste gesehen!», ruft er vergnügt.
«Ja, ich habe gewonnen!», erwidert sie bestimmt und runzelt ihre Stirn wie ein Kind.
«Bist du schon mal hier gewesen?», fragt er sie unvermittelt.
Claudia schüttelt unschuldig ihren Kopf. Fernandez beginnt ihr von dieser Bar zu erzählen. Er berichtet von ihrem Gründungsjahr und ihrer Entwicklung…

Claudia hört nicht zu. Sie interessiert sich nur für ihr heisses Verlangen nach ihm. Sie schweigt. Sie gibt sich nicht einmal die Mühe Interesse vorzuspielen. Sich zu verstellen ist nicht ihre Stärke.
«Ich langweile dich wohl, hm!», bemerkt er mit einem schelmischen Schmunzeln im Gesicht.
Claudia zuckt nur mit ihren Schultern. Plötzlich packt sie ihn an seinen Hüften und presst ihn an sich. Mit langsamen rhythmischen Bewegungen reibt sie ihren Körper an den seinen. Die heissen Latino Klänge verstärken nur ihre unstillbare Lust. Fernandez passt sich dieser neuen Situation schnell an. Noch ehe sie es realisiert, schwingt er sie im Kreis herum. Er bezaubert sie mit seinen eleganten Tanzschritten. Dabei berührt er sie bei jeder Gelegenheit, ohne dabei aufdringlich zu wirken…

Er spürt ihre Erregung, welche sich mit seiner Erregung vermischt. Er spielt mit dem Feuer. Ganz bewusst streift er mit seinen Lenden ihre Schenkel, ihren Hinter, ihre Finger. Er versucht seine Erektion nicht zu unterdrücken. Wozu auch! Es wäre ohnehin zu spät. Entweder wendet sie sich von ihm ab, weil sie ihn für einen sexgeilen, perversen Lustmolch hält, oder sie lässt sich auf sein offenes animalisches Balzverhalten ein.
Als sie ihn plötzlich ohne Vorwarnung umarmt, zuckt er innerlich zusammen. Ihr gemeinsames Tanzduett wird immer wilder, triebhafter und unkontrollierter. Er spürt, wie sie sich mit ihren Fingernägeln in seine Gesässbacken krallt. Zum ersten Mal in seinem Junggesellendasein scheint eine Frau die Oberhand über ihn zu gewinnen. Fast fühlt er sich durch sie überwältigt. Hilflos gefangen in seinem rasenden Verlangen, von ihr erobert zu werden, schafft er es gerade noch sich im letzten Moment geistig zu fangen.
Er packt sie und dreht sie um ihre eigene Achse. Jetzt hat er wieder die Oberhand, so wie er es bei seinen Klienten, seinen Geliebten und all seinen Mitmenschen gewohnt ist…

«Was ist da gerade passiert?».
Diese Frage stellt sich Claudia, die gerade aus ihrer Trance erwacht ist. Sie scheint von einer fremden Macht geleitet worden zu sein, als sie sich Fernandez genähert hat. Und dann plötzlich ist der Zauber vorüber. Jetzt ist sie wieder diejenige, die sich ihrem Gegenüber unterordnet. Ihre «Gegenüber» sind stets Männer, die sie erobert, von denen sie sich dann erobert fühlt, und von denen jeder einzigartig ist. Jeder einzelne ist es wert, dass er in ihrem Gedächtnis haften bleibt. All die gemeinsamen Erlebnisse zwischen ihr und ihren flüchtigen Sexabenteuern hat sie in ihrem Gehirn analysiert, katalogisiert und archiviert auf immer und ewig.
In ihren letzten vierzehn Jahren hat sie viele Männer kennen gelernt. Jeder einzelne hat sich wie ein Schatz in ihrem Schädel verewigt. Einen von ihnen in Natura wieder zu begegnen, käme ihr nicht im Entferntesten in den Sinn. Auch wenn es in diesem Augenblick den Anschein hat, dass sie von Fernandez mehr will als nur eine flüchtige Begegnung, verhält es sich nicht anders wie bei ihren anderen Männern. Sie fokussiert ihr Ziel darauf, Fernandez Körper zu spüren. Es geht ihr nur darum.
Gelegentlich spielt Fernandez den Gentleman. Das langweilt sie. Das nervt sie. Wenn er sie dann auf galante Weise zu einer Theke führt, um ihr eine Erfrischung zu besorgen, fühlt sie sich ihren wilden Trieben hilflos ausgeliefert. Wie eine geile Bestie hält sie verzweifelt nach anderen Männern Ausschau. Es ist der Trieb, der sie dazu veranlasst…

Fernandez, dem ihre hungrigen Blicke in seiner grenzenlosen Selbstüberzeugung nicht einmal ansatzweise auffallen, zieht alle Register, um sie in seinen Bann zu ziehen. Er ist jedoch nicht auf den Kopf gefallen. Bald schon merkt er, dass er mit ihr kein vernünftiges Gespräch führen kann. Das liegt nicht nur an der viel zu lauten Musik. Nichts ist mehr von ihrer anfänglich so offenen und anhänglichen Art zu erkennen. Sie bildet eine unsichtbare Mauer um sich und scheint der realen Welt völlig entrückt. Sie bestätigt nur das Bild, das er sich von ihr im Kaufhaus, «OLA-OBA», gemacht hat.
«Hysterisch und schizoid».
Diese Worte schwingen durch sein Gehirn, als er die geistesabwesende Frau mustert. Mit seinem Blick tastet er ihren makellosen Körper ab, der sich unter diesem luftigen Kleid abzeichnet. Während sie unruhig an ihrem Getränk nippt, sich von jeder Kleinigkeit ablenken lässt und mit ihren verführerischen Beinen unruhig zappelt, erhärtet sich sein Glied. Seine Lust steigert sich und staut sich zwischen seinen Beinen auf, bis er vor lauter Verzweiflung glaubt seiner Triebe nicht mehr Herr zu werden…

Eben noch hat sich Claudia ihm körperlich ganz nah gefühlt. Und jetzt erscheint er ihr distanziert und unerreichbar. Sie versteht nicht, was er von ihr will. Weicht er ihr aus? Hat sie sich nicht mit ihm verabredet, damit sie beide Sex haben? Sie starrt plötzlich auf einen unsichtbaren Punkt. Sie erinnert sich daran, als sie sich von Fernandez verabschiedet hat, kurz nachdem sie OLA-OBA verlassen hat. Sie hätte schon damals den Versuch starten können, sich Fernandez zu nähern. Stattdessen hat sie sich von ihm abgewendet. Als ob sie auf ein unsichtbares Ziel zugesteuert wäre, ist losmarschiert und hat sich in eines dieser vielen Gassen verirrt, wo es seit den Vierzigern nur so von Singlebars boomt. Sie ruft ihre Erinnerungsbilder wie eine Filmsequenz in ihrem Kopf ab…
Sie kennt nicht einmal den Namen dieser Bar, wo sie einen Typen kennen lernt, der genau zu wissen scheint, was sie will. Sein Körper ist breit, gross, über zwei Meter, extrem muskulös, fast schon unheimlich. Er schleppt sie kurz vor Morgengrauen zu sich heim. Mit seinem gigantischen Körper scheint er seine winzige, schäbige Wohnung auszufüllen. Er weiss genau, was sie will. Das beängstigt sie. Er stillt ihre Bedürfnisse, bis sie glaubt, sich im Himmel und in der Hölle gleichzeitig zu befinden. Dann verlässt er die Wohnung. Mit seinen stahlblauen Augen fixiert er sie so lange, bis sie zittert.
«Ich hab meine Schicht! Mein Job ist es, Verbrecher zu jagen! Hä, hä, hä!».
Der Klang seiner kratzigen Stimme lässt ihr Blut gefrieren.
«Warte auf mich! Ich bin heut Nachmittag wieder hier! Verarsch mich nicht, Baby!».
Sie nickt verstört. Kaum hat er die Wohnung verlassen, zieht sie sich an und flüchtet auf die Strasse…
Zurückgekehrt in die Gegenwart startet sie ihren letzten Versuch sich Fernandez zu nähern. Doch er kommt ihr zuvor. Ohne Vorwarnung teilt er ihr mit, dass er morgens noch einen Termin mit einem wichtigen Klienten habe. Ganz Gentlemanlike legt er seinen Arm um sie und führt sie nach draussen. Statt das zu verhindern, lässt sie mit sich geschehen. Wie ein folgsames Kind lässt sie sich von ihm nach Hause begleiten. Dabei wäre sie noch gerne in der Blue Bar geblieben.
«Vielleicht können wir das wiederholen.», erklingt seine sanfte, männliche Stimme.
Claudia versteht den Sinn seiner Worte nicht und verzieht ihr Gesicht zu einer dümmlichen Grimasse.
«Ähm, ich meine, wir könnten uns nochmals verabreden. Ich rufe dich an.».
Daraufhin räuspert er sich, weil er sich armselig fühlt und seine Worte sich falsch anhören. Da ist wieder dieses offene Lächeln von Claudia, die ihn jetzt offensichtlich verstanden hat. Sie nickt übereifrig und ruft herzlich:
«Oh ja, das müssen wir unbedingt wieder machen!».
Er spürt plötzlich wieder dieses wilde Verlangen. Wenn er wüsste, dass sie sich in diesem Moment ihm mit Leib und Seele hingeben würde, würde er sie auf der Stelle packen, sie küssen, auf das hin sie ihn in ihre Wohnung hereinlassen würde, um ihr dann ihre Kleider vom Leibe zu reissen. Er schafft es gerade noch, seine animalischen Triebe im Zaune zu halten. Er ergreift ihre Hand, nähert sich ihr und deutet ganz dezent einen Abschiedskuss an. Innerlich atmet er erleichtert aus, als er sich von ihr entfernt.
Auf seinem Nachhauseweg grübelt er über sie nach. Noch nie war ihm eine Frau wie sie begegnet. Sie verwirrt ihn, bringt ihn aus der Fassung, erzeugt in ihm eine Lust, die er kaum zu bewältigen vermag. Gleichzeitig stösst sie ihn mit ihrem merkwürdigen Verhalten ab. Seine Hoffnung, dass sie nur wegen der lauten Musik sich so abwesend und oberflächlich verhalten hat und etwas Besonderes ist, beherrscht seine Gedanken.

Schicksalsmoment

Claudia bleibt eine halbe Ewigkeit vor der Eingangstür stehen. Sie späht in die Dunkelheit, als ob sie auf ein Wunder warten würde. Verbissen fragt sie sich, ob sie nicht in die Blue Bar zurückkehren sollte. Oder sie könnte noch andere Bars und Diskos aufsuchen. Sie will nicht diesen Abend auf diese Weise beenden. Wie soll sie denn die Monotonie ihrer folgenden arbeitsreichen Woche überstehen, wenn sie nicht wenigstens ein männliches Wesen gespürt hat.
Sie starrt nach oben und richtet ihren Blick auf den Himmel. Sie beginnt im Geiste all die Namen von Sternenbildern aufzusagen. Sie erinnert sich, wie sie als Kind zufällig in einer Schulbibliothek in einem Astronomiebuch blättert…
Anfangs zeigt sie kein Interesse für die vielen Buchstaben. Da ist sie neun Jahre alt und ist erst kürzlich von einem Schulpsychologen wegen ihrer verminderten Intelligenz, ihrer Legasthenie und Dyskalkulie als lernbehindert eingestuft worden.
Plötzlich entdeckt sie die unterschiedlichen Muster, die von den Sternen gebildet werden. Ihre Wahrnehmung ändert sich. Die Namen, wie Kassiopeia, Delfin, Andromeda und viele mehr, springen ihr direkt ins Gesicht. Die Buchstaben, die sie noch vor wenigen Augenblicken wie unverständliche Hieroglyphen wahrgenommen hat, sprechen klar und deutlich zu ihr. Sie führen sie in die Welt uralter Mythen ein und bringen ihr die wissenschaftliche Bedeutung der Astronomie näher.
In diesem Augenblick wird sie von ihrer Sonderschullehrerin überrascht, die sie mit strenger Stimme ermahnt:
«Claudia! Was tust du hier! Ich habe dich gesucht! Du sollst doch bei deinen Klassenkameraden bleiben! Komm jetzt. Die Kinderbücher befinden sich nicht hier! Hast du verstanden!».
Claudia lässt vor Schreck das Buch auf den Boden fallen. Als sie von ihrer Lehrerin zu den anderen Kindern gebracht wird, wagt sie es nicht einmal sich umzudrehen, um einen Blick auf das Astronomielehrbuch zu werfen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die restliche Zeit dieses Vormittags verbringt sie nur damit, dass sie unter der Aufsicht von Frau Aspen lustlos in irgendwelche Kinderbücher blättert. Die Buchstaben ergeben für sie keinen Sinn. Sie versucht es nicht einmal, einzelne Worte konzentriert zu lesen. Ihre schlechte Einstellung zu Büchern wird sich in den kommenden Jahren nur noch verhärten…

Tom Schneider kauert seit einer halben Ewigkeit in diesem Dornbuschgewächs. Sein Gesicht ist ganz verstochen und verkratzt. Aber das ist es ihm wert. Er hat nämlich einen Plan. Er wartet hier solange, bis Claudia von ihrem Ausgang zurückkehrt. Er will sie überraschen. Er hält den Zeitpunkt für ideal. Keine Menschenseele ist hier um diese Uhrzeit zu sehen. Er stöhnt auf, als er Claudia in der Begleitung eines Kerls in Anzug erblickt.
«Das war ja zu erwarten. Es wäre seltsam, wenn sie bei ihrem Aussehen keinen Mann kennen lernen würde.».
Sein Blick ist stur auf die beiden gerichtet. Sein Puls beschleunigt sich, weil er befürchtet, dass sie ihn in ihre Wohnung bitten könnte. Dann wäre sein Warten umsonst gewesen. Seine langen, muskulösen Beine schmerzen. Viel länger hält er es in dieser Kauerstellung nicht mehr aus.
Vor ein paar Tagen hat er Claudia kennen gelernt. Am 20. Januar 2045. Sie haben ein paar unvergessliche Stunden in seiner miefigen Wohnung verbracht. Er hatte noch nie eine Frau wie sie. Sie hat sich ihm regelrecht aufgedrängt. Es hat ihm grosse Überwindung gekostet, als er sich von ihr hat trennen müssen. Aber seine Arbeit als Polizist stellt er über alles andere. Jeder Einsatz bedeutet für ihn die Gelegenheit sich zu beweisen. Sein täglicher Kampf gegen die Verbrecher gibt ihm den Adrenalinkick, den er braucht.
Tom ist ein Adrenalinjunkie der besonderen Art. Er muss sich nicht von hohen Felsen stürzen oder sich einen Bunsenbrenner zwischen seine Gesässbacken klemmen, um den erhebenden Moment des Todes zu spüren. Als Hüter von Recht und Ordnung verschafft er sich fast täglich den nötigen Rausch.
Er stöhnt ein weiteres Mal auf, so erleichtert ist er, als sich der gut aussehende Gentleman von ihr verabschiedet und sich in der Dunkelheit zurückzieht. Am liebsten hätte er ihm den Kopf abgerissen. Aber daran ist jetzt nicht zu denken. Endlich kann er sich aufrichten…

Gerade, als sich Claudia das 88zigste Sternenbild in Erinnerung ruft, hört sie mit ihren sensiblen Ohren ein Rascheln, das von den Gebüschen auf der anderen Strassenseite kommt. Sie erstarrt innerlich, als eine gigantische Gestalt wie ein Dämon aus den Blättern und Dornen schlüpft. «Tom Schneider!», zischt es bedrohlich durch ihren Schädel. Das ist derselbe Kerl, der sie bis zur Erschöpfung befriedigt, gefordert, sie gnadenlos unterworfen und ihr gedroht hat. Die einzelnen Bilder, wie sie hilflos und zitternd vor Erregung vor ihm kniet und seinen Schwanz mit ihren Lippen, ihrer Zunge und ihren Zähen bearbeitet, spulen sich automatisch in ihrem Gehirn ab. Als er dicht vor ihr anhält, erinnert sie sich an einen Satz von ihm:
«Verarsch mich nicht, Baby!».
Sie wagt nicht in sein Gesicht zu blicken. Sie starrt auf seinen mächtigen Brustkorb, der sich auf und ab bewegt. Sie schätzt seine Grösse auf über 210 cm und sein Gewicht auf fast 250 Kilogramm. Sie spürt plötzlich, wie er seine dicken Finger unter ihr Kinn schiebt. Er zwingt sie nach oben zu schauen, direkt in sein bleiches Gesicht. Seine Mimik hat etwas Bedrohliches und Aufdringliches zugleich. Tief in ihrem Innern weiss sie, dass es das Beste wäre, diese Bestie zu meiden.
«Willst du mich nicht hereinlassen! Sozusagen als Wiedergutmachung dafür, dass du nicht auf mich gewartet hast!».
Seine Stimme klingt gedehnt, wie wenn man das Pedal eines Pianos herunterdrückt. Seine Worte dringen in ihren Kopf. Sie kann sich nicht dagegen wehren. Sie folgt nur seinem Befehl, als sie die Tür aufschliesst und diesen Hulk in das Gebäude hineinführt. Die knarrenden Holztreppen des vergangenen Jahrtausends drohen unter seinem Gewicht einzustürzen.
Sie geht mit zittrigen Knien voraus. Sie spürt seinen Atem auf ihrem Rücken. Sie fürchtet sich zu Tode. Gleichzeitig betrauert sie das Ende ihrer Freiheit, um die sie als Teenager so unerbittlich gekämpft hat. Trotzdem vermag sie das pulsierende Gefühl zwischen ihren Beinen nicht zu ignorieren.
Als sie am dritten Stock ankommen, schafft sie es kaum den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Die Tür geht endlich mit einem Ruck auf. Sie tritt in ihr winziges Reich ein, das all die 14 Jahre ihr allein gehört hat. Ihre Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum ist, versiegt, als sie dieses Monster erblickt, das ihre Wohnung wie ein Raubtier durchstreift.
«Hm – hm! Gefällt mir! Da lässt sich’s für eine Weile aushalten!», brummt er mit kratziger Stimme, die so fürchterlich aufdringlich und bedrohlich auf sie wirkt.
Plötzlich spreizt er seine Beine, lässt einen gewaltigen Furz los, kratzt sich zwischen seinen Beinen und grölt in voller Lautesstärke. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zu gehalten. Nur ihre Furcht vor ihm hält sie davon ab. Tom wirft einen flüchtigen Blick auf ihr kleines Bett.
«Ne – neee! Das Klappergestellt kracht ja unter meinen zweieinhalb Zentnern zusammen! Da penn ich lieber auf dem Boden! Ha, ha, ha, ha…».
Wieder erfolgt sein Ohrenbetäubendes Lachen. Plötzlich richtet er seinen Blick auf Claudia.
«Hey du! Na komm schon! Bloss keine falsche Scheu! Hä, hä, hä!», brummt er und zeigt mit seinem Zeigefinger direkt auf sie.
Sie wagt es nicht sich seinem Befehl zu widersetzen.

  
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